So richtig gschämig

Narrenschiff

So richtig gschämig

Haben Sie schon davon gehört, dass 2024 zum «Jahr der Scham» ausgerufen wurde? Wundern würd's mich nicht, denn gschämig ist das neue Achtsam.

Viel zu lange lag das weite Feld der Scham brach. Beinahe hatte ich vergessen, wie ich jeweils gefragt wurde: «Schämst du dich eigentlich gar nicht?» 

Sogar das Wort selbst schien vom Erdboden getilgt. Bis es im Fremdschämen wieder auftauchte. Immerhin die Frage stellte sich nun etwas anders: «Schämt der sich eigentlich gar nicht?» Anstatt den eigenen Blick beschämt zu senken, wurde er ab 1999 fasziniert auf Big Brother und andere Peinlichkeiten gerichtet.

Brachland soll bei der Regeneration der Erde helfen. Und tatsächlich: Das Schämen blüht 2024 wieder in jedem Gschpürmi-Gärtli. Wer fliegt, der schämt sich gehörig und erklärt nach jedem Rückflug zerknirscht, dass er den Flieger mit einem ganz schlechten Gefühl betreten und verlassen habe. Aber sein CO2-Bussgeld, das hat er entrichtet, denn seit dem Ablasshandel im Mittelalter gibt's keine Zweifel mehr: «Sobald der Gülden im Becken klingt im huy die Seel gen Himmel fliegt».

Bin ich damit als notorischer Nichtflieger ein Shaming-Poor, einer der unter dem Schämdi-Radar fliegt? Denkste! Ich habe vier Kinder mit in die Welt gestellt. Und damit unwiderruflichen Klimaschaden angerichtet. Der Aufruf zum «Gebärstreik» stand damals zwar noch nicht im Raum, aber wenn der Schaden mal angerichtet ist, dann helfen auch billige Ausflüchte nichts mehr. Ich habe mich aber immerhin für das Verhalten unserer Familie in der Öffentlichkeit geschämt. Und die Öffentlichkeit hat sich fremdgeschämt.

Meine Kinder sind heute unverschämt erwachsen. Deshalb muss ich meinen Schämhaushalt wieder selbst ins Lot bringen. Dabei hilft mir «Body Shaming», Gewichtsklasse «Fat Shaming». Andere schämen sich in der Gewichtsklasse «Skinny Shaming» um die Wette. Ich schäme mich, weil ich meinem Körper zu wenig Sport gönne … und damit meine Lebenszeit verkürze. Andere lehre ich das Schämen, weil sie ihrem Körper zu viel Höchstleistung zumuten … und damit ihre Lebenszeit verkürzen.

Vortrefflich schämen lässt sich auch über mangelhaftes Zeitmanagement. Aktuelles Stichwort: «Weihnachtspost im Januar». Wer dagegen seine To-do-Liste im Griff hat, der schäme sich gefälligst für seinen inneren Füdlibürger.

Weiter schäme ich mich für meinen Sprachgebrauch. Je nachdem von welcher Seite er gerade geprüft wird, steckt darin immer noch viel zu viel Sexismus oder dann wieder viel zu viel zeitgeistiges Gutmenschentum.

Allmählich wird mir klar, weshalb die katholische Kirche jahrhundertelang so versessen darauf war, ein Monopol auf Beichte und Busse zu haben. Es gibt einfach immer etwas zum Schämen. Der «Walk of Shame» wird niemals enden.

Text: Thomas Binotto