Originell ist die Frage nicht: «Was ist genug zum Leben?» Jeder Mensch stellt sich diese Frage immer wieder. Für Simone Arenz ist sie Alltag, ebenso drängend wie individuell. Sie berät bei der Caritas Zürich armutsbetroffene Menschen. Während manche im Wohlstand unnötigen Ballast loswerden und dabei spirituell wachsen wollen, stellt sich für Menschen in prekären finanziellen Verhältnissen die Frage ganz anders. «Worauf muss ich verzichten?» steht in scharfem Kontrast zur Frage «Worauf will ich verzichten?»
In die Beratung von Simone Arenz kommt die alleinerziehende Mutter, der krankgeschriebene Vater, die Familie mit Migrationshintergrund. Für jeden Fall sucht Arenz gemeinsam mit den Klientinnen und Klienten nach individuellen Wegen.
Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten. In allen Fällen ist vom Budget nach Abzug von Wohnungsmiete und Krankenkasse nicht mehr viel übrig. Sparen ist so praktisch ausgeschlossen. Die Sorgen um Geld, Zeit und Gesundheit rauben viel Kraft.
Drei geschwärzte Akten liegen vor uns. Auf die Namen kommt es nicht an. «Diese alleinerziehende Mutter berate ich schon seit mehreren Jahren immer wieder. Ihr Budget ist knapp ausgeglichen. Auch dank der sehr preiswerten Wohnung. Aber diese wird demnächst abgerissen. Eine Wohnung in der gleichen Preisklasse zu finden, ist praktisch ausgeschlossen.»
Und schon droht das Budget in eine gefährliche Schieflage zu geraten. Spielraum gibt es keinen, obwohl die Tochter ihren gesamten Lehrlingslohn zum Budget beiträgt und sich mit 100 Franken Taschengeld im Monat zufriedengeben muss.
Die Frau ist Schweizerin und gut ausgebildet. Sie arbeitet im Hort. Aber sie kämpft seit Jahren mit psychischen Problemen und fehlendem Selbstbewusstsein. «Bei ihr sehe ich meine Aufgabe als Beraterin vor allem darin, sie zu bestärken, damit sie an ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten glaubt.»
Aber auch ganz konkrete Hilfe ist gefragt. Beispielsweise das gemeinsame Ausfüllen des Stipendienantrags für die Tochter. Ein ziemlich komplexes Unterfangen mit viel digitalem Papierkrieg. «Die Beratungskompetenz ist mein wichtigstes Werkzeug. Aber ich muss auch ein möglichst breites Wissen mitbringen und dafür immer wieder neu recherchieren. Ob Arbeitsrecht, Gesundheitswesen, Sozialhilfe, Kinder-betreuung, Schuldenberatung … bei keinem Thema kann ich wirklich in die Tiefe gehen …, aber in jedem muss ich über solides Wissen verfügen.»
Simone Arenz erzählt begeistert von ihrem Arbeitsleben als Generalistin. Nach dem Studium in Sozialarbeit hat sie sich gegen die Spezialisierung entschieden. Und für die freiwillige Beratung. Alle Menschen, die zur ihr kommen, tun dies aus freien Stücken. Deshalb kann und will sie nichts erzwingen. Sie glaubt auch nicht, dass Zwang viel bringen würde. Für ihre Arbeit braucht sie das Bild der Lotsin. Sie hilft den Menschen beim Entdecken eigener neuer Wege.
Und bleibt selbst dann geduldig, wenn der seit langem krankgeschriebene Vater immer wieder bei der gleichen Frage blockiert. Sein Budget ist strukturell im Minus. Eigentlich müsste er dringend Sozialhilfe beantragen. Aber er weigert sich standhaft. Traut den Ämtern nicht über den Weg. Will keine Kontrolle abgeben. Befürchtet, dass sich der Empfang von Sozialhilfe negativ auf ein Einbürgerungsgesuch auswirken könnte. Simone Arenz befürchtet, dass sich seine Weigerung negativ auf seine Familie, seine Frau und das fünfjährige Kind auswirken könnte. Dass der Mann schlimmstenfalls bei der Ernährung spart, um Schulden zurückzuzahlen. Trotzdem bleibt Arenz ihrer Haltung treu. Sie berät geduldig weiter. Sagt offen, was ihr auffällt. Hält aber keine Lösungen bereit. Macht keinen Druck und hofft auf Einsicht. «Ich versuche, in der Beratung neue Blickwinkel zu eröffnen. Wer armutsbetroffen ist, steckt manchmal so tief in den Sorgen, dass er gar keine Energie mehr hat, neue Ressourcen zu entdecken. Ich unterstütze die Menschen darin, nicht das Problem zu fokussieren sondern ihre Möglichkeiten wieder zu erkennen und aktiv zu handeln.»
Simone Arenz lotst durch viele Baustellen. So wie es auch der Kollege und die Kollegin tun. Davon profitiert auch jene Familie mit Migrationshintergrund, die sehr initiativ und mutig nach Lösungen sucht. Der Mann hat eine 100%-Stelle in der Reinigung gefunden. Die Frau den Pflegehilfekurs beim Roten Kreuz absolviert. Das gibt Grund zur Hoffnung für die sechsköpfige Familie. Aber Sorglosigkeit sieht anders aus. Noch immer steht die Familie finanziell stark unter Druck. Und wieder hilft Arenz beim Sortieren, unterstützt Zielstrebigkeit, fördert das Setzen von Prioritäten, hilft beim Überwinden von Hürden.
Und damit gibt sich Simone Arenz dann zufrieden? Sicher nicht. «Die Fragen, die sich in der Beratung stellen, haben auch eine strukturelle und damit politische Dimension. Ich will nicht bloss Pflästerli verteilen. Deshalb ist die Grundlagenarbeit, die bei der Caritas Zürich geleistet wird, für mich so wichtig. Und deshalb schätze ich den Austausch zwischen Beratung und Grundlagenarbeit so sehr.» Damit aus individuellen Hoffnungsschimmern und Erfolgsgeschichten irgendwann solide Zuversicht und soziale Gerechtigkeit werden.