Über das Schweigen

Bericht aus den Religionen: Islam

Über das Schweigen

Kriegerische Konflikte lösen Leiden aus, die Stellungnahme herausfordern. In der Hilflosigkeit setzt sich dann aber doch oft das Schweigen durch.

« […] wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.» Im Grunde könnte die Kolumne mit diesem Zitat aus dem Vorwort von Ludwig Wittgensteins «Tractatus logico-philosophicus» enden. Die Ausdrucksfähigkeit menschlicher Gedanken hat eine Grenze. Jenseits des Sagbaren ist Un-Sinn, jenseits des Denkbaren existiert keine Sprache. In den mystischen Traditionen gelten Schweigen und Meditieren als Transzendieren, das Überschreiten der Grenze von Denk- und Sagbarem und das Eintreten in eine andere Dimension. Wittgenstein hatte es weniger mit der Mystik als mit der mathematisch-logischen Denkweise. Doch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs mögen auch dazu verholfen haben, die Grenzen des Vorstellbaren und des Sagbaren erfassen und beschreiben zu wollen. 

In «meinen Kreisen», egal ob und wie religiös, welcher Ethnie zugehörig, ob mit oder ohne Migrationsbiographie, unabhängig von einer wie auch immer gearteten politischen Ausrichtung, wird angesichts unfassbarer Gewalt, Menschenverachtung, Entrechtung, Demütigung, Vernichtung und Vertreibung mal leise, mal laut über das Schweigen nachgedacht. Schon immer. Weil eine Zeit ohne Gewalt auf dem Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan und weiter nach Osten bis Euphrat und Tigris ausserhalb unseres Vorstellungs- und Erinnerungsvermögens liegt. Doch, dieser aktuelle Krieg hat eine neue Dimension, für die Menschen vor Ort und für alle, die ohnmächtig mitfühlen. Nie zuvor habe ich so viel Resignation gespürt. Eine Resignation, die gar zum Bruch mit der Gesellschaft führen kann. Der Glaube an Menschenrechte, die nicht nur für alle gelten, sondern zu deren Durchsetzung auch alle gleichermassen verpflichtet sind, steht schon länger auf morschen Pfeilern. Dass Völkerrecht systematisch missachtet wird, Verstösse aber ungleich sanktioniert werden, ist hinlänglich bekannt. Jetzt aber hat all das ein Mass angenommen, das dazu führen kann, dass sich Menschen nicht mehr an demokratischen Prozessen beteiligen, sich der politischen und gesellschaftlichen Mitsprache und Mitgestaltung enthalten, sie künftig «leider keine Zeit» für interreligiösen Dialog oder gesellschaftliche Debatten haben. 

Mir fällt auf, wie oft ich höre, man sei «buchstäblich sprachlos», habe «keine Worte», könne «nicht ausdrücken, was man empfinde» ob all des Mordens, -Leidens und der Ungerechtigkeit. «Ich kann nur noch schweigen», sagte mir traurig unlängst eine Bekannte. Genau das Gegenteil wird aber gefordert: Schweigt nicht! Nehmt Stellung! Erhebt das Wort! Als wäre das so einfach. Von denen, die noch Worte haben, höre ich, dass sie ihnen nicht zugestanden werden. Entweder man spricht über diesen Krieg, dieses Grauen, über seinen Kontext auf eine bestimmte Weise oder gar nicht. In interreligiösen Kreisen haben es gemeinsame Verlautbarungen zur aktuellen Situation schwer. Wenn gewisse Wörter darin vorkommen, unterschreibt der Eine nicht. Wenn die gleichen Wörter fehlen, unterschriebt der Andere nicht. Dann lieber schweigen oder sich dazu bekennen, dass man sich immerhin einig darin ist, uneinig zu sein. Oder ein Zitat suchen, zu dem alle ja sagen können, so wie jenes von Juda Löw Baruch, bekannt als Carl Ludwig Börne, der wie Wittgenstein aus einer jüdischen Familie stammte:

«Es gibt keinen Menschen, der nicht die Freiheit liebte; aber der Gerechte fordert sie für alle, der Ungerechte nur für sich allein.»  

Leserbrief

Amira Hafner-Al Jabaji hat einen seltsam abstrakten und anspielungsreichen Text verfasst. Die Hauptthese: Viele sind von den kriegerischen Ereignissen buchstäblich sprachlos, und «von denen, die noch Worte haben, höre ich, dass sie ihnen nicht zugestanden werden.» Nun, bei uns kann jede und jeder das Wort erheben, was nicht heisst, dass alles legitim und begründet ist, was gesagt wird. Und viele von denjenigen, die etwas zu sagen haben, reden auch Klartext. Hafner-Al Jabaji suggeriert hingegen, dass viele Diskussionen «Streit um Worte» sind. Aber es ist eben bedeutsam, welche Begriffe man benutzt. Und was man verschweigt. 
Francesco Papagni, Zürich

Text: Amira Hafner-Al Jabaji