Warum lügen Menschen immer noch?

Eine gute Frage

Warum lügen Menschen immer noch?

Lügen schaden und können zerstören. Es gibt sie in Abstufungen. Und manchmal schützt es alle, nicht «die ganze Wahrheit» zu sagen. Auf der Spur eines Gebots, das niemand ganz und gar einhalten kann.

Ein Stich ins Herz, als würde mir jemand die Brust durchbohren – so fühle ich mich, wenn ich eine Lüge entdecke. Zugegeben, fadengerade ins Gesicht gelogen wurde mir noch selten. Aber Halbwahrheiten sind mir bestens bekannt. Oder Infos, die erst auf mein Nachfragen hin herausgerückt werden. All das hinterlässt bei mir einen fahlen Nachgeschmack. Mein Vertrauen schmilzt. Beziehungsfördernd scheint das Lügen nicht zu sein. Wieso tun es Menschen dann? Wieso immer noch? 

Es kann nicht daran liegen, dass die Weisung, nicht zu lügen, noch neu oder unbekannt wäre. Schon im ersten Testament (Exodus 20,16) ist sie als achtes Gebot überliefert: «Du sollst nicht falsch gegen deine Nächsten aussagen», oder moderner übersetzt: «Verleumde nicht deine Mitmenschen». Hier geht es allerdings um Sippenmoral: Was dient dem Überleben der Gruppe und dem Zusammenhalt? Dass es sich auszahlt, aufrichtig und authentisch zu sein – das ist menschliche Erfahrung, die Religion und Kultur übersteigt. So lässt sich erklären, dass dieses Gebot in anderen Religionen ebenfalls überliefert ist; neben vielen anderen Übereinstimmungen.

Öffentliche, üble Nachrede ist also laut religiösen Weisungen tabu. Die Lügen im privaten Bereich werden hier hingegen nicht angesprochen. Obwohl sie viel häufiger vorkommen. Deshalb reizt es mich, in diese Richtung weiter zu fragen: Wie wäre es, wenn alle auf der ganzen Welt grundehrlich wären? 

Zunächst wäre es bestimmt in vielen Bereichen einfacher: Probleme kämen direkt auf den Tisch und könnten bearbeitet werden. Allerdings könnte eine Person bei aller Ehrlichkeit weiterhin nur das ausdrücken, was ihr bewusst ist. Vielleicht wäre also der Mehrwert eher klein? Handkehrum würden mir bei all der Ehrlichkeit wohl ständig Dinge um die Ohren geschlagen. 

Etwa auf die Frage «Wie geht es dir?» bekäme ich unmittelbar Einblick in die Tiefen der Seele meines Gegenübers. Plötzlich würde ich auch in Abgründe sehen. Unabhängig davon, wie gut ich die Person kenne, hörte ich von Zweifeln, Ängsten, kürzlicher Trennung, überraschender Schwangerschaft, lebensbedrohlicher Diagnose, überschwänglicher Freude oder von wilden Fantasien. Nur schon bei dieser Vorstellung stockt mir der Atem! – Ich will nicht alles von allen wissen.

Vollständige Authentizität kann tatsächlich schädlich sein. Nur einen Teil von mir zu zeigen, bietet mir Schutz, wahrt die notwendige Grenze zu anderen und lässt mich handlungsfähig bleiben. Es überfordert mein Gegenüber nicht und bewahrt vor verletzenden Informationen. Das allerdings will gelernt sein. Kleine Kinder scheitern kläglich, wenn ein Pokerface gefragt ist. Bei manchen Würfelspielen ist das köstlich zu beobachten. 

Einerseits kommt man mit Pokerface in gewissen Situationen leichter durch das Leben. Andererseits bedeutet Wahrheit nicht nur moralische Verpflichtung, sondern auch Freiheit. Es ist wohltuend, wenn es Menschen gibt, denen ich all meine Ecken und Kanten zeigen kann: Ganz so sein, wie ich bin. Das ist wie Balsam für die Seele.

Text: Mirjam Duff Theologin, Dozentin und Beraterin an der Fachhochschule Nordwestschweiz