Lektion im </span><span>Zugabteil

Editorial

Lektion im Zugabteil

Wenn im Zug jemand lautstark telefoniert... und aus dem ersten Ärger eine Lektion entsteht: in respektvollem Formulieren von eigenen Gefühlen. 

Nach einem langen Tag versuche ich im Pendlerzug meinen Gedanken etwas nachzuhängen. Keine Chance: im Gang telefoniert jemand lautstark.

Dann beendet der Mann sein Telefongespräch und setzt sich vis-à-vis von mir hin. Zückt sein Handy und hört eine Sprachnachricht ab. Wieder in voller Lautstärke. Ich blicke auf und sehe einen sympathischen Burschen, ganz in seiner eigenen Welt. Er hat das Down-Syndrom. Aus seinem Handy ertönt die Stimme einer jungen Frau. Sie spricht langsam, etwas schwerfällig, aber sehr eindringlich. «Hey», sagt sie und nennt seinen Namen. «Du hast mich gestört! Du sagst einfach Hoi zu mir, aber ich muss mich konzentrieren! Die Arbeit ist streng. Ich mag dich, aber du kannst nicht einfach kommen und mich stören! Deshalb habe ich nicht Hoi zu dir gesagt!» Der junge Mann hört sich die Botschaft zweimal an. Dann drückt er die Aufnahmetaste, sagt den Namen der jungen Frau und fährt fort: «Verstanden! Ich habe dich gehört. Ich nehme das ernst, was du sagst. Weisst du, für mich war heute auch ein strenger Tag. Es war alles etwas viel. Aber ich will dich nicht stören. 
Bis zum nächsten Mal!» 

Wow, denke ich. Was für eine Klarheit im Benennen der eigenen Gefühle! Welche vorbehaltlose Offenheit gegenüber der Kritik am eigenen Verhalten – und welch respektvoller Umgang miteinander. Eine Lektion für das ganze Zugabteil. 

Als ich etwas später lese, dass viele Krankenkassen Neugeborene mit Trisomie 21 oder anderen Geburtsgebrechen von der Spitalzusatzversicherung ausschliessen – selbst wenn sie vorgeburtlich angemeldet wurden –, bin ich schockiert. Wie wertvoll ist jeder Mensch. Wie viel kann ich von jedem und jeder lernen. Wie ist es möglich, den einen eine zusätzliche Unterstützung zu verweigern?

Text: Beatrix Ledergerber