Zwei Zahlen – ein Auftrag

Leitartikel

Zwei Zahlen – ein Auftrag

Die Kirchenaustritte sind 2023 stark gestiegen. Zur Bewältigung der Krise helfen weder Panik noch Selbstgerechtigkeit weiter. Eine Einschätzung von Thomas Binotto.

An welcher Zahl sollen wir uns nun ausrichten? Daran, dass im vergangenen Jahr im Kanton Zürich über 14 000 Menschen aus der Römisch-Katholischen Kirche ausgetreten sind? Oder daran, dass immer noch über 20 % der Menschen dieser Kirche angehören. Die Antwort lautet: Beide Zahlen fordern uns heraus.

Es gibt kein Ausweichen: Die katholische Kirche hat nicht bloss ein Imageproblem, sie steckt in einer Krise. Dazu gehört, dass immer mehr Menschen der Kirche den Rücken kehren. Der Glaubwürdigkeitsverlust, der darin sichtbar wird, ist zu einem grossen Teil selbst verschuldet. Vor allem der missbräuchliche Umgang mit Macht und überkommene Moralvorstellungen stossen immer mehr Menschen ab.

Ebenso nachdenklich stimmt aber auch, dass immer mehr Kirchenmitglieder auf die Angebote der Kirche verzichten. Sie heiraten nicht mehr kirchlich, sie lassen ihre Kinder nicht mehr taufen. Sie entfernen sich still und leise von der Kirche, selbst wenn sie formell nie ihren Austritt geben.

Mit ebensolcher Klarheit müssen wir aber auch sehen, dass immer noch gegen 300 000 Menschen im Kanton Zürich der Römisch-katholischen Kirche angehören. Über 20 % der Bevölkerung hat diese Kirche noch nicht abgeschrieben. Noch immer ist sie eine gestaltende Kraft in dieser Gesellschaft. Sie setzt sich für soziale Gerechtigkeit ein. Für einen schonenden Umgang mit der Schöpfung. Für Nächstenliebe, die nicht von Leistungsfähigkeit abhängt. Und noch immer engagieren sich in jeder der fast hundert Pfarreien im Kanton viele Menschen freiwillig für eine glaubwürdige Kirche.

Beiden Realitäten müssen wir uns stellen. Wer nur auf die eine Zahl schaut, droht gelähmt zu werden. Entweder durch ein Gefühl von Aussichtslosigkeit oder durch ein Gefühl von Überheblichkeit. Ob Menschen aus der Kirche austreten oder Menschen in der Kirche bleiben: Sie alle fordern die Kirche heraus. Und so unterschiedlich ist es gar nicht, was all diese Menschen erwarten. Sie erwarten eine Kirche, die für den Nächsten und die Nächste da ist, eine hilfreiche, froh machende, befreiende Kirche.

Sie fordern nichts weniger als die Besinnung auf das, wofür der Glaube an Jesus Christus stehen sollte. Entscheidend wird am Ende sein, ob die Menschen diesem Glauben auch in der Tat begegnen. Sei es, wenn sie doch wieder einmal reinschauen. Sei es, wenn sie kirchennah geblieben sind. Sie alle haben eine Kirche verdient, die sensibel und vital auf jene Fragen reagiert, die heutige Menschen stellen.

Text: Thomas Binotto