Bewölkt glücklich

Editorial

Bewölkt glücklich

Meine Antwort auf die Frage «Wie geht es dir?» fällt seit einiger Zeit zwiespältig aus. «Eigentlich geht es mir sehr gut», antworte ich häufig. 

Ich muss nicht heucheln: Mir geht es wunderbar, weil ich mit liebevollen Menschen unterwegs sein darf, mich guter Gesundheit erfreue und spannende, erfüllende Arbeit leisten darf. 
Ich bin ein Glückspilz.

Und doch fühle ich mich häufig nur eigentlich sehr gut. Der grosse Jubel über mein glückliches Dasein bricht einfach nicht aus. Und was ich in mir selbst als Müdigkeit empfinde, beobachte ich bei vielen anderen Menschen. Mir scheint manchmal, als breite sich eine kollektive Müdigkeit aus.

Inzwischen habe ich eine Vermutung, woher meine Müdigkeit kommen könnte: Ich wurde von den schweren Folgen einer Covid-Erkrankung verschont, leide direkt weder unter dem Ukraine-Krieg noch dem Krieg in Israel und Palästina, kann mich frei bewegen und äussern, bleibe von staatszersetzenden Parteien und autokratischen Präsidentschaftskandidaten verschont, und noch immer lebe ich in einem Land mit üppigem Grün und Wasser in Fülle.

Dennoch hängt die Weltlage mit ihren vielen grauen Wolken über mir. Und selbst wenn ich es mir nicht jeden Tag bewusst werde, so nisten sich doch ganz viele Sorgen bei mir ein. Habe ich damit das Recht auf ein sonniges «Sehr gut!» verspielt?

Ich wehre mich und will das Glück weiterhin spüren. Aber nicht um seiner selbst Willen, sondern als Mut zur Gemeinsamkeit und zur Veränderung. Dort, wo ich bin. Dort, wo ich kann. Vielleicht mit jenem Menschen, der mich als Nächstes fragt: «Wie geht es dir?»

Text: Thomas Binotto