Die Direktheit hat sie überrascht

Interview

Die Direktheit hat sie überrascht

Tanja Haas ist Seelsorgerin bei der Katholischen Behindertenseelsorge. Sie schätzt das direkte Feedback von Gehörlosen und lernt auch nach fünf Jahren jeden Tag etwas Neues dazu.

Brauchen gehörlose Menschen eine Spezialseelsorge? 
Tanja Haas: Gehörlose sehen sich nicht als Menschen mit einer Behinderung, sondern als Menschen mit einer eigenen Kultur, der Gehörlosenkultur. Damit sie ihre eigene Kultur leben können, bietet unsere Seelsorge ihnen einen Raum.

Was erleben die Menschen in diesem Raum?
Das Wichtigste, vor allem für die ältere Generation, ist die Gemeinschaft. Einmal in der Woche gibt es einen Kaffeetreff in der reformierten Gehörlosengemeinde, regelmässig bieten wir Shibashi an, das ist eine Meditation mit Bewegung. Auch die Malworkshops meines reformierten Kollegen Pfarrer Matthias Müller Kuhn und seiner Frau Veronika Kuhn sind beliebt, denn Gehörlose denken oft in Bildern und können sich durchs Malen gut ausdrücken. Gottesdienste, Ausflüge, Reisen und kulturelle Angebote gehören auch zu unserem ökumenischen Programm. 

Sollten wir Gehörlose nicht besser in Pfarreien mit Hörenden integrieren?
Wie die Menschen in den Fremdsprachigen-Missionen brauchen sie beides: unter sich sein und zusammen mit anderen sein. Deshalb feiern wir «Mitenand-Gottesdienste» in verschiedenen Pfarreien. Die Gottesdienste werden in Gebärdensprache übersetzt, und oft werden Teile der Liturgie, z. B. das Vaterunser-Gebet, in Gebärdensprache vorgetragen. Wir gehen mit gehörlosen Experten in den pfarreilichen Religionsunterricht zum Sensibilisieren und bereiten die «Mitenand-Gottesdienste» dort mit Menschen mit Behinderung und den Mitarbeitenden vor Ort vor. Dann geschehen oft eindrückliche Begegnungen. Die Hörenden lernen z. B. das «Beten mit Gebärden», das tiefer geht als nur mit Worten. 

Sie haben jetzt vor allem von den älteren -Menschen gesprochen …
Wir haben klar drei Generationen unter den Gehörlosen. Die älteren durften als Kinder nicht in Gebärdensprache kommunizieren, sondern mussten die Lautsprache lernen und von den Lippen ablesen. Erst als Erwachsene kam die Gebärdensprache als Zweitsprache hinzu. Die mittlere Generation ist zweisprachig aufgewachsen: mit der Laut- und der Gebärdensprache. Wenn sie sich untereinander unterhalten, verstehe ich es kaum mehr, weil sie so schnell und stimmlos gebärden. Dann gibt es Gehörlose, denen ein Cochlea-Implantat eingesetzt wurde. Das ist eine Technologie, welche direkt die Hörnerven stimuliert, so dass diese Menschen etwas hören. Wobei sie in einem langen Prozess zuerst lernen müssen, was all die Geräusche bedeuten, dann erst kommt der Spracherwerb.   

Wie erreicht ihr die jüngeren Menschen?
Der allgemeine Trend in der Kirche ist bei uns verschärft spürbar. Früher wurde in Gehörlosenschulen konfessioneller Religionsunterricht angeboten. Das ist im Kanton Zürich nicht mehr so.

Dann ist vielleicht eines Tages die -Gehörlosenseelsorge überflüssig? 
Zusammen mit den Organisationen im Gehörlosenzentrum in Oerlikon suchen wir neue Wege für die jüngere Generation. In diesem Haus sind das reformierte Gehörlosenpfarramt sowie verschiedene Selbsthilfe- und Beratungsorganisationen untergebracht. Wir möchten in Zukunft gemeinsam niederschwellige Anlässe für Familien anbieten, zum Samichlaus, zu Weihnachten und zu Ostern.

Was können wir beitragen, um Gehörlosen die Kommunikation zu erleichtern?
Das Beste ist natürlich, einige Gebärden zu lernen oder sogar einen Gebärdensprachkurs zu besuchen. Ansonsten ist wichtig, den gehörlosen Menschen anzuschauen, Hochdeutsch zu sprechen, ein deutliches Mundbild und einfache Sätze zu bilden. So können gehörlose Menschen gut folgen.

Was ist für Sie ganz persönlich das Besondere an Ihrer Arbeit mit Gehörlosen? 
Ich lerne jeden Tag Neues dazu. Gehörlose äussern ihre Bedürfnisse und ihr Feedback sehr direkt. Daran musste ich mich erst gewöhnen. Mittlerweile weiss ich diese Art der Kommunikation zu schätzen. Ich weiss immer, woran ich bin. Mich fasziniert das starke Bedürfnis der Gehörlosen, alles zu verstehen und verstanden zu werden im wahrsten Sinne des Wortes und auch im tieferen Sinne; deshalb ist es normal, immer wieder nachzufragen, bis man einander verstanden hat. Diese Haltung versuche ich mir immer mehr zu verinnerlichen – auch im Umgang mit Hörenden.

Text: Beatrix Ledergerber