Herzzerreissend

Welt der Religionen

Herzzerreissend

Ruven Bar Ephraïm, Rabbiner in Zürich, hat es selbst erlebt: Interreligiöse Kontakte, die in «guten» Zeiten geknüpft werden, zahlen sich in «schlechten» Zeiten aus.

Nach der Tradition sollte eine Synagoge Fenster haben, damit man sich nicht von dem, was draussen passiert, abschotten kann. In den letzten Monaten ist diese Aussenwelt sehr stark in uns eingedrungen. Die Ereignisse in Israel und Gaza haben mich Tag und Nacht beschäftigt. Der Unglaube, dass so viel Schmerz und Leid von Menschen über andere Menschen gebracht werden kann, erstickt mich fast. Wegen meines Passes, wegen meiner Familie und Freunde, wegen meiner persönlichen Geschichte bin ich mit Leib und Seele mit Israel und seinem Volk verbunden. Dies ist unabhängig von meiner Meinung über die Politik jeglicher israelischen Regierung. Das menschliche Leid ist herzzerreissend für die palästinensischen und israelischen Flüchtlinge, für die Verwundeten, für die Familien der Gefallenen, der Getöteten, der Vermissten und der Geiseln. Die Traumata der Überlebenden können bestenfalls in eine aktive Haltung umgewandelt werden, um Frieden zu schaffen, aber ich fürchte, sie werden die gegenseitige Angst und den Hass verstärken. 

Hier, weit weg, im sicheren Zürich, berührt uns der Krieg. Wir versuchen, einen Sinn in etwas zu finden, das sinnlos und vor allem hoffnungslos erscheint. Wir suchen gegenseitige Unterstützung. Zunächst innerhalb der Gemeinde. Aber durch die Fenster der Synagoge dringen die Geräusche der Gesellschaft um uns herum. «Wie geht es dir? Wie geht es der Familie in Israel?» Ich kann mir gut vorstellen, dass den hier lebenden Palästinensern die gleichen Fragen gestellt werden. Die Suche nach Unterstützung weitet sich aus. Bei öffentlichen Demonstrationen, die die Befreiung der Geiseln fordern, sind wir nicht allein. 

Die interreligiösen Kontakte, die in «guten» Zeiten geknüpft wurden, zahlen sich in diesen «schlechten» Zeiten aus. In einem privaten Gespräch kurz nach dem 7. Oktober mit Vertretern aller in Zürich vertretenen Glaubensgemeinschaften versuchen wir uns gegenseitig zu erklären, wie wir uns fühlen und was in unseren Gemeinschaften vor sich geht. Wichtig ist mir, zu vermitteln, dass berechtigte Kritik an israelischen Regierungen möglich sein sollte. Aber sobald man das Existenzrecht Israels in Frage stellt oder gar ablehnt, überschreitet man die Grenze zum Antisemitismus. 

Bei einer Klagefeier in der Offenen St. Jakobskirche stehen wir Seite an Seite, die Pfarrerin, der Imam und der Rabbiner. Mit Hilfe des Psalmisten (22, 15) rufen wir unsere Verzweiflung aus: «Wie Wasser bin ich hingeschüttet, und es fallen auseinander meine Gebeine.» Gemeinsam beklagen wir das Schicksal der Unschuldigen. In der Stille zündet jeder Anwesende eine Kerze an. Eine ebenso kleine wie grosse Geste. 

Auch wenn es weh tut, müssen wir weiterreden, weiter zuhören, weiter den anderen sehen. Es scheint nicht viel zu sein, aber nur so können wir unsere Gesellschaft zusammenhalten.


Dieser Text wurde vor dem Attentat vom  2. März in Zürich  geschrieben. Ruven  Bar Ephraïm hat ihn bewusst so belassen, wie er ihn abgegeben hat.

Leserbrief

Der Anschlag der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung vom 7. Oktober war barbarisch, menschenverachtend und durch nichts zu rechtfertigen. Das unsägliche Leid und die humanitäre Katastrophe der palästinensischen Bevölkerung im Gaza-Krieg muss uns genauso rühren und Sinnfragen nach dieser «Auge um Auge, Zahn um Zahn»-Politik der israelischen Regierung wecken. Ruven Bar Ephraïm, Rabbiner der Jüdischen Liberalen Gemeinde Or Chadasch in Zürich, zeigt Empathie für die israelische wie für die palästinensische Seite. Es ist das erste Mal, dass ich von jüdischer Seite Empathie für hüben und drüben vernehme. Die Fronten sonst sind verhärtet, der blinde Hass mit Worten und Bildern zu greifen. Nur eine Zweistaatenlösung kann der Region längerfristig den ersehnten Frieden und Gleichberechtigung auf Augenhöhe bringen. Wer aus der Geschichte nichts lernt, hat die Hoffnung auf eine friedlichere Zukunft verspielt.
Joseph Auchter, Meilen

Text: Rabbiner Ruven Bar Ephraïm