Eine Frau der Tat

Reportage

Eine Frau der Tat

Clara Ragaz-Nadig sollte in Zürich weithin bekannt sein. Ist sie aber nicht. Ein Spaziergang zu den Lebensorten der Pazifistin und Frauenrechtlerin anlässlich ihres 150. Geburtstags.

Das beige Backsteinhaus ist imposant. Von den Wohnungen am Zürichberg aus dürfte die Aussicht auf die Stadt und den See herrlich sein. Klar, die Villen in der Nachbarschaft sind gehobener, aber damals schon war dieses Haus eine gute Adresse. Hier an der Gloriastrasse 68, in Fussdistanz zur Universität, lebte die Familie Ragaz vor rund hundert Jahren. 

Das Paar hatte sich in Chur bei einer Hochzeit kennengelernt. Er war Stadtpfarrer in Chur, sie unterrichtete dort die Sonntagsschule. Sein Werben um sie wies die gut ausgebildete, intelligente junge Frau erst zurück: Sie sei nicht gemacht für den Pfarrhaushalt. Und: zwar empfände sie Freundschaft, aber eben keine Liebe für den sozial engagierten und umtriebigen Pfarrer. Es folgten ein intensiver Briefwechsel über mehrere Monate und schliesslich doch die Verlobung, die Hochzeit und zwei Kinder. 

Als die Familie in die Wohnung am Zürichberg zieht, ist Leonhard Ragaz auf dem Höhepunkt seiner Karriere: Nach Chur war er zweiter Pfarrer am Basler Münster geworden, dann folgte 1908 die Berufung an die Universität Zürich. Auch Clara Ragaz ist zu diesem Zeitpunkt öffentlich aktiv: Sie ist Vorstandsfrau der sozialen Käuferliga (SKL), welche Produkte, die unter fairen Bedingungen produziert wurden, mit Labeln auszeichnet. Damit versucht die SKL, die Kaufkraft der Bevölkerung zu nutzen, um faire Löhne und angemessene Arbeitszeiten für Arbeiterinnen und Arbeiter zu erwirken – eine frühe und lokale Form dessen, was sich später im internationalen Handel mit Fairtrade-Labeln wie Max Havelaar durchsetzen wird. Leonhard und Clara verbindet die Überzeugung, dass der Einsatz für die Arbeiterschaft und Armutsbetroffene zum Christin-sein dazugehört. Für diese Überzeugung gehen sie weit.
 

Ein «Weltbrand» greift um sich

Leonhard und Clara Ragaz erleben eine grosse Zäsur, die ihr Leben unwiderruflich prägt: den ersten Weltkrieg. Die Worte, die beide für diesen Krieg finden, sind «Weltuntergang», «Weltkatastrophe» oder «Weltbrand». Ab den ersten Kriegsjahren nimmt Clara Ragaz ihr internationales pazifistisches Engagement auf. 

Vom Krieg sind in der Schweiz insbesondere jene Teile der Bevölkerung betroffen, für die sich Clara auch vor dem Krieg eingesetzt hat: Durch die Inflation, durch Massenentlassungen, durch private Profiteure der Waffenindustrie und die Mobilisation von Soldaten für den Grenzschutz kommen insbesondere Arbeiterinnen, Arbeiter und deren Familien in eine finanzielle und persönliche Notlage. Feminismus und Sozialismus ohne Pazifismus sind für Clara Ragaz nicht möglich.

Frieden ist nicht die Abwesenheit von Krieg, sondern die Sicherung der Existenzgrundlagen und die Förderung der sozialen Sicherheit.

Clara Ragaz

Als Präsidentin des Schweizer Zweigs der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) hält sie Vorträge, reist zu internationalen Konferenzen, schreibt unermüdlich Aufsätze und Briefe und organisiert nach Kriegsende 1919 eine internationale Frauenfriedenskonferenz im Hotel Glockenhof mit. 

Das Jugendstilhaus unweit der mondänen Bahnhofstrasse ist bis heute mit dem Christlichen Verein Junger Menschen (CVJM) verbunden. Ein niederschwelliges Freizeit- und Bildungsangebot, eine Kita und ein Café ohne Konsumzwang sind an dieser Adresse heute nebst dem Hotel zu finden – eine soziale Insel an diesem Standort. 

1919 bietet das Hotel mit seinen Sälen genug Platz für 150 Frauen aus 16 Nationen. Clara Ragaz hält die Eröffnungsrede der Konferenz. Sie ist getragen von der Hoffnung, dass die Konferenz Grundlagen für den Aufbau eines friedlichen Zusammenlebens erarbeiten kann. Die Frauen setzen auf den Völkerbund und politisieren mit einem breiten Verständnis von Frieden: Frieden ist nicht die Abwesenheit von Krieg, sondern die Sicherung der Existenzgrundlagen und die Förderung der sozialen Sicherheit. 

Damit benennen Clara Ragaz und ihre Mitstreiterinnen einen Schlüssel in der Friedensförderung, den auch die heutige feministische Friedenspolitik als solchen sieht: Care. Sie, die weltweit mehrheitlich von Frauen geleistete Sorgearbeit, sowie ihre Rahmenbedingungen spielen eine zentrale Rolle in der Friedensförderung. Dennoch werden auch heute noch Milliarden in eine durch Waffengewalt abgestützte Sicherheit investiert statt in die Bedingungen, unter denen Care-Arbeit geleistet wird.


Hinunter ins Arbeiterviertel

Wer den Spuren von Clara Ragaz in Zürich weiter folgen will, muss ihre Bewegung nachvollziehen: runter vom Zürichberg, hinein ins Arbeiterviertel Sihlfeld. In London hatten Leonhard und Clara das Settlement «Browning-Hall» besucht und immer wieder erwogen, nach diesem Vorbild ein Haus in Zürich zu nutzen: Gut situierte Menschen teilen ihre Zeit, ihre Ressourcen und auch ihr Geld ganz praktisch und konkret mit Arbeiterinnen und Arbeitern. Im efeuüberwachsenen Mehrfamilienhaus an der Gartenhofstrasse 7 findet die Familie das Zentrum ihres Wirkens. Der kleine Saal im Erdgeschoss bietet damals Platz für bis zu 60 Personen. Dort halten sie Andachten und Vorträge, geben Kurse und leiten Diskussionsabende, bieten Menschen in Not Unterstützung oder laden Geflüchtete zu einer Weihnachtsfeier ein. Clara Ragaz ist die tatkräftige Seele des Hauses. 

Heute ist «der Gartenhof» im Besitz der «Wogeno Zürich», der Genossenschaft selbstverwalteter Häuser, und erzählt als Wohnhaus und Sitz verschiedener Organisationen auch heute noch von der Geschichte des Hauses.

Für die Familie Ragaz ist der Schritt ins Arbeiterquartier nicht nur geografisch ein Abstieg, sondern auch sozial: Die Familie gibt Anerkennung, sicheres Einkommen und Beamtenstatus auf. Clara Ragaz verdient immer auch eigenes Geld, durch Übersetzungsarbeiten und eine Lehrtätigkeit an der heutigen Schule für Soziale Arbeit, deren Anfänge sie mitprägt und zur Professionalisierung dieses Berufsfeldes beiträgt. Der Ausschluss von Frauen aus der öffentlichen Sphäre treibt sie um. 

In der Kirche St. Jakob – heute als offene Citykirche betrieben, mit breitem Programm von meditativen Tänzen bis zu Ausstellungen rund um die europäische Migrationspolitik – hält sie ein flammendes Referat mit dem Titel «Die Revolution der Frau». Zeitlebens kämpft Clara Ragaz für das Recht von Frauen auf politische Partizipation. Die Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechtes 1971 wird sie nicht mehr miterleben: Leonhard Ragaz stirbt kurz nach dem zweiten Weltkrieg, sie elf Jahre später im Jahr 1957. 

Bereits kurz nach seinem Tod beschloss der Stadtrat Zürichs, Leonhard Ragaz mit einem Weg zu ehren. Heute führt der Leonhard-Ragaz-Weg durch eine Siedlung der Baugenossenschaft Turicum, die bezahlbaren Wohnraum mit reduziertem Energieverbrauch anbietet. Das hätte Leonhard bestimmt gefallen, war doch der Genossenschaftsgedanke, geprägt durch seine dörfliche Kindheit im Kanton Graubünden, in seiner sozialen Vision zentral. Eine Würdigung von Clara Ragaz im öffentlichen Raum blieb bisher aus – aber ihr Wirken lebt in vielfältiger Form weiter.

Clara Nadig

wird am 30. März 1874 in Chur in eine bürgerliche Familie geboren. Sie absolviert eine Ausbildung zur Lehrerin. 1901 heiratet sie Leonhard Ragaz. Zunächst lebt das Ehepaar mit den beiden Kindern in Basel, später in Zürich. 1915 begründet sie die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) mit und präsidiert den Schweizer Zweig von 1915 bis 1946. Ab 1922 leben und wirken Clara und Leonhard an der Gartenhofstrasse 7. 1945 stirbt Leonhard Ragaz, 1957 dann Clara Ragaz-Nadig.

Text: Geneva Moser, Co-Redaktionsleiterin der Zeitschrift Neue Wege, die 1906 von Leonhard Ragaz mitgegründet und geleitet wurde.