Mein Wappentier

Narrenschiff

Mein Wappentier

Wenn ich im öffentlichen Verkehr unterwegs bin, ist der Igel mein Wappentier.

Ich suche mir ein freies Abteil. Wenn möglich eines, bei dem auch das Abteil daneben leer ist. Zum Lottokönig werde ich, wenn jene in meinem Rücken und vor mir ebenfalls verwaist sind. Erst dadurch wird mein Platz mein, ganz mein. Einmal sass ich im Himmel auf Erden: Am 27. August 2020 um 16:06 bei Mannheim. Da hatte ich für eine halbe Stunde einen kompletten ICE-Wagen für mich allein.

Ich habe zwar meine Stacheln, aber ich wurde von meinen Eltern auch dezidiert auf Jö-Faktor erzogen, weil den haben Igel schliesslich auch. Also belege ich die Plätze um mich rum weder mit Mantel, Rucksack noch anderem Stacheldrahtersatz. Ich schnaube auch nicht, wenn ich gefragt werde, ob der Platz neben mir noch frei ist.

Aber ich stöpsle mir selbstredend die Ohren zu. Und manchmal übersehe ich mutwillig bekannte Gesichter, so gekonnt, wie es sonst nur überaus beschäftigt tuende Serviceangstellte im Restaurant beherrschen. Selbst geliebte Gesichter habe ich schon ausgeblendet, damit ich ja nicht meine mobile Einsiedelei verlassen musste.

Auf meiner Heimreise von meinen Ferien auf der ostfriesischen Insel Wangerooge hatte ich zunächst wieder einmal alles richtig gemacht: Beim Einchecken für den Inselflieger nahm ich einem Mann den Vortritt. Unwillentlich zwar, aber das Resultat zählt. Das Missverständnis klärte sich zwar schnell und gesittet, aber der Anfang einer wunderbaren Freundschaft sieht anders aus.

Wieder auf dem Festland standen wir erneut da. Wartend beim Anleger. Wie zwei traurige Gestalten aus «Spiel mir das Lied vom Tod». Als sich dann aber abzeichnete, dass am Ostermontag kein Showdown stattfinden würde, sprachen wir uns dann doch an. Ganz unverbindlich natürlich: «Warten Sie ebenfalls auf den Bus nach Bremen?»

Als der Bus eintraf, waren wir bereits weichgeklopft und setzten uns nebeneinander. Also jeder auf seinen Zweierplatz natürlich. So viel Igel muss sein!

Genutzt hat es wenig. Wir kamen dennoch richtig ins Gespräch. Während wir durch Ostfriesland geschaukelt wurden, tauschten wir uns über unsere Berufe aus. Darüber was meine Kinder hinter sich und seine Kleinen noch vor sich haben. Wir landeten völlig ungezwungen bei Meister Eckhart. Sogar ein Abgleich des katholischen Aufwachsprozess in München mit jenem im Luzerner Seetal lag drin.

Das Gespräch war dermassen angeregt, dass ich mich kurz vor dem Aussteigen fragen musste, ob ich mich bei der Igel-Community im Bus für die Ruhestörung entschuldigen sollte. Egal! Ich hab’s nicht getan. Und verabschiedet haben wir uns, jetzt viel mehr Jö als Igel, in ehrlicher Vorfreude auf das Wiedersehen. «Also dann, bis im nächsten Jahr auf der Insel.»

Text: Thomas Binotto