Der Theologe, der es selbst nicht kapiert

Porträt

Der Theologe, der es selbst nicht kapiert

Karl Rahner ist für viele der einflussreichste katholische Theologe des 20. Jahrhunderts. Welche seiner Gedanken lohnen sich, nachzudenken? Eine Annäherung.

Karl Rahner konnte witzig sein. Fragt ihn einmal einer: «Sind Sie der Bruder des berühmten Pater Rahner?» – Antwortet er: «Nein, das ist mein Bruder!» Karl hatte einen älteren Bruder, Hugo Rahner, der Jesuit und Theologe war wie er selbst. Seinen Humor sollte der Theologe zeitlebens behalten, ebenso wie seinen badischen Akzent. Geboren am 5. März 1904 trat Karl mit 18 Jahren in den Jesuitenorden ein und studierte Theologie und Philosophie. Seine wissenschaftliche Karriere begann er im Fach Philosophie, schloss sein Doktorat aber nicht ab, sondern wurde 1936 in Theologie promoviert und habilitierte sich bereits im Jahr darauf. Als Professor unterrichtete er in Innsbruck, München und Münster.

Rahner dachte komplex und schrieb entsprechend kompliziert, auch setzte er in seinen Schriften und Vorträgen einiges voraus. Das macht es nicht einfach, irgendwo bei den fast 24 000 Seiten einzusteigen, die von ihm veröffentlicht worden sind.

 

Er atmete den Geist des Konzils

Seinen wohl grössten Einfluss auf die Kirche übte Karl Rahner als theologischer Sachverständiger beim Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) aus. Deshalb wird er heute meist aus einer Perspektive nach dem Konzil verstanden. Oft wird aber vergessen, dass Rahner bereits 58 Jahre alt war, als das Konzil begann. Bis dahin lebte er in einer Kirche, die sich seit Jahrzehnten verkrampft auf ihr Lehrgebäude und die Tradition berief, um jede Idee des Modernismus abzuwehren, und die Zensur – von der er selbst betroffen war – als Mittel einsetzte. Er hat zwei Kriege überlebt und als Theologe die Restriktionen durch den Nationalsozialismus zu spüren bekommen; er wusste um die Schwierigkeit, danach noch an das Gute in jedem Menschen zu glauben. Und er teilte das Anliegen von neuen innerkirchlichen Bewegungen, die Kirche auf die Zukunft hin auszurichten, statt sich an der Vergangenheit zu orientieren. Davon geprägt wollte er neuzeitliches Denken, aktuelle menschliche Erfahrung und den christlich-kirchlichen Glauben verbinden, kurz: Er atmete den Geist des Konzils – eines Konzils, das die Theologie stark verändert hat, die Kirche, wie viele glauben, jedoch noch zu wenig.

 

Ein Schlüssel:  Der Mensch fragt nach Gott

Erstaunlich, dass dieser grosse Theologe als Siebzigjähriger vor Studierenden einmal beiläufig eingestanden hat, für ihn bedeute theologisch zu denken der «Umgang mit einer Wirklichkeit, die ich nicht richtig kapiere». Damit ist die wesentliche Frage angestossen, die Rahner umtrieb: Wie kann sich der Mensch dem Geheimnis Gott wenigstens nähern – wenn er Gott schon nicht erfassen kann?

In seinem Buch «Geist in Welt» versucht er darauf eine Antwort zu geben: Mit seinem Geist sei der Mensch imstande, über die «Welt», also über alles Physische, Sinnliche, hinauszugreifen und zu erkennen, was jenseits von allem liegt, das wir mit unseren Sinnen erleben können. Doch: Kann man nach etwas fragen, von dem man gar nichts weiss? Nein, meint Rahner, aber bei der Frage nach Gott gehe es auch nicht um eigentliches Wissen, sondern darum, dem Wunsch des Geistes nachzugeben, über sich hinauszugehen. Aber wozu dient diese «Fähigkeit» des Geistes, die offenbar nur der Mensch besitzt?

«Wir können Gott nicht lieben, 
als dass wir ihn in unserem Nächsten lieben.»

Karl Rahner, Der neue Auftrag der einen Liebe, 1965
Gott sucht den Menschen

Rahner glaubt, Gott habe die Welt und den Menschen erschaffen, um sich zu offenbaren: Gott habe jeden Menschen mit diesem Geist beschenkt und in diesem Geist sei Gott selbst gegenwärtig – Rahner bezeichnet das mit dem theologischen Begriff Gnade. Dadurch sei jeder Mensch «radikal offen» auf Gott und will ihn kennenlernen, will sich ihm annähern. Theologisch ausgedrückt: Der Wunsch, sich mit Gott vertraut zu machen, heisst, Gott zu lieben. Das klingt sehr abstrakt. Rahner wäre aber nicht Rahner, hätte er diesen Gedanken nicht mit konkreter Erfahrung verbunden – mit der Erfahrung, die die Menschen mit Jesus gemacht haben, und mit der, die wir heute durch die Begegnung mit anderen Menschen machen.

 

Nächstenliebe ist Gottesliebe

Jemandem begegnen, ohne an den eigenen Nutzen zu denken, einem Menschen zu helfen und ihn so zu sehen, wie er ist: Dieser rote Faden im Leben Jesu heisst Nächstenliebe und ist eine Grundhaltung. Sie setzt voraus, auf andere Menschen hin «radikal offen» zu sein, auch offen gegenüber dem, was ich nicht verstehen kann und mir fremd bleibt. Wichtig ist auch, dass die Liebe «beim Nächsten ankommt, um bei ihm zu bleiben». Rahner war überzeugt: Man kann Gott nicht am Menschen vorbei lieben, denn Gott zu erfahren heisst, einem Du zu begegnen – einem Du, das ich erfahren kann. «Nur wenn wir begreifen, dass es eine wirklich letzte Einheit zwischen Gottes- und Nächstenliebe gibt, verstehen wir eigentlich, was das Christentum ist, und welch göttlich einfache Sache es doch ist.»

 

Göttlich einfach

Viele, die Rahner kannten, erinnern sich an seine Offenheit gegenüber anderen Menschen und sein ehrliches Interesse. Seine Persönlichkeit spiegelte sich also in seinen theologischen Gedanken – und umgekehrt.

Als er 1962 die Schriftstellerin Luise Rinser kennenlernte, entwickelte sich schnell eine tiefe, mehrere Jahre dauernde intime Freundschaft, die sich nicht nur auf das Schaffen Rinsers ausgewirkt hat. Auch Rahner erlebte, wie seine spekulativen theologischen Überlegungen über die personale Begegnung von Gott und Mensch und über die Nächsten- und Gottesliebe plötzlich in ihrer emotionalen Breite und Tiefe lebensnah und erfahrbar wurden.

Dieser Gedanke Rahners bleibt aktuell: Gott lässt sich erfahren. In der Welt. Im Du.

Text: Markus Zimmer, promovierter Kirchenhistoriker und Musikwissenschafter