Vier Minuten mit einem langen Atem

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Vier Minuten mit einem langen Atem

Das «Wort zum Sonntag» wird 70 Jahre alt. Eine Sendung, die seit Jahrzehnten aus der Zeit gefallen scheint und doch immer wieder in der Gegenwart ankommt.

Am Freitagnachmittag hat Ines Schaberger für ihr «Wort zum Sonntag» nur drei Zuschauer, alles Mitarbeiter von SRF. Die dreissigjährige katholische Theologin steht bei SRF ganz allein in jenem Studio, in dem auch die Tagesschau produziert wird, und spricht scheinbar ins Leere. Die Kameraführung ist vollautomatisiert. Geführt wird Schaberger aus dem Regieraum von Regisseur, Tontechniker und Sendungsredaktor.

Das «Wort zum Sonntag» ist eine der ältesten Sendungen im Schweizer Fernsehen. Am 6. Juni 1954 wurde die erste Folge ausgestrahlt, damals und bis 1958 noch unter dem Titel «Zum heutigen Sonntag». Seither hat sich nicht nur der Titel geändert. Am augenfälligsten ist der Wandel von Outfits und Frisuren bei den Sprecherinnen und Sprechern. Am folgenreichsten 1980 der Wechsel auf den Sendeplatz zwischen Tagesschau und Samstagabend-Unterhaltung.

Das Signet der Sendung hat sich im Laufe von 70 Jahren immer wieder verändert. Immer wieder war das Anliegen, die Bildsprache der jeweiligen Zeit zu treffen. (Bilder: SRF/zvg)

Unverändert geblieben ist das Sendeprofil. Seit nunmehr 70 Jahren wird den Zuschauerinnen und Zuschauern ein «Kommentar aus christlicher Sicht zu religiösen, geistigen und ethischen Fragen» geboten. Zensur gibt es keine. Weder von den Kirchen, welche die Sprecherinnen und Sprecher vorschlagen, noch von SRF, das die Sendung produziert und redaktionell verantwortet. Einzig an die publizistischen Leitlinien müssen sich die Theologinnen und Theologen halten, politische Parolen beispielsweise sind nicht erlaubt. Sendungsredaktor Norbert Bischofberger ermutigt die Sprecherinnen und Sprecher aber, auf ihre ganz persönliche Weise den Zuschauenden «etwas aus dem Schatz der christlichen Tradition mitzugeben. Etwas, das man in den eigenen Alltag mitnehmen kann.»



Ines Schaberger versucht es am heutigen Aufnahmetag so: Sie spricht ganz offen davon, dass ihr in den letzten Monaten die Hoffnung abhandengekommen ist. Und berichtet, wie sie bei der Autorin Barbara Pachl-Eberhart die Idee der «Immerhin-Tage» entdeckt hat, die ihr gerade an scheinbar hoffnungslosen Tagen weiterhilft. Das Wort «christlich» fällt kein einziges Mal. Auch aus der Bibel zitiert sie nicht. Und dennoch wird spürbar, wie Schaberger ganz selbstverständlich aus dem Schatz christlicher Tradition schöpft. Nur harmlos unterwegs sein, will sie aber auch nicht. «Ich will mir nicht später Vorwürfe machen müssen, dass ich schwierige Themen vermieden habe. Für die nächsten Sendungen habe ich mir auch umstrittene Fragen vorgenommen.»

Für das «Wort zum Sonntag» hat SRF mit der reformierten, der katholischen und der christkatholischen Kirche einen Vertrag geschlossen. Er regelt unter anderem, dass die Kirchen jeweils alle zwei Jahre neue Theologinnen und Theologen vorschlagen dürfen, die dann allerdings noch Kameratests und eine Schulung durch SRF zu bestehen haben. Das «Wort zum Sonntag» ist der «christlichen Sicht» vorbehalten. Die religiöse Vielfalt berücksichtigen andere Formate. In Sendegefässen wie Dok, Reporter, Sternstunden oder Kulturplatz wird immer wieder die Sichtweise von Menschen anderer Religionen und Kulturen thematisiert.

Aus sieben Jahrzehnten «Wort zum Sonntag» ragen die Auftritte von Pfarrer Ernst Sieber heraus: Sieber zieht einen Esel übers Schneefeld. Sieber als Kaminfeger. Sieber strickt. Solche Auftritte sind heute kaum mehr denkbar, vor allem aus finanziellen Gründen, denn auch das «Wort zum Sonntag» muss sparen. Eine Person spricht in die Kamera. Mehr Raffinesse ist da nicht.

In der herrschenden Reizüberflutung tut es gut, während vier Minuten runterzufahren und nur einer Person zuzuhören, die sich Gedanken über das Leben macht.

Ines Schaberger

Wohl nicht zuletzt deshalb wurde bereits 1998 in einem Radiobeitrag die «Fossilfrage»gestellt. Erwin Koller, damals Redaktionsleiter, hat die Frage 1998 gleich beantwortet wie Norbert Bischofberger heute: «Die Reduktion auf das Wort, die Stimme und eine Person, das hat etwas. Darin liegt auch Kraft.»

Und Ines Schaberger meint dazu: «Das ‹Wort zum Sonntag› arbeitet stark mit dem Prinzip der Personalisierung. Viele Menschen identifizieren sich mit den Sprechenden. Und weil Menschen lieber anderen Menschen – als Institutionen – zuhören und folgen, ist das ‹Wort zum Sonntag› super zeitgemäss.»

Schaberger ist für den heutigen Aufnahmetag perfekt vorbereitet. Nach zwei Durchläufen und einer halben Stunde sind die vier Minuten im Kasten. Am nächsten Tag wird die Sendung ausgestrahlt. Dann werden um die 300 000 Menschen zuhören. Das Fossil lebt.

 

Anmerkung der Redaktion In einer früheren Fassung wurde auf  die Sendung «Bilder zum Feiertag» verwiesen. Dieses Format gibt es bei SRF allerdings nicht mehr. Der Hinweis wurde deshalb gestrichen.