Schmerzhaft visionär

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Schmerzhaft visionär

1939 bis 1941 schrieb der englische Komponist Michael Tippett (1905–1998) ein Oratorium, das damals visionär war und das bis heute schmerzlich aktuell geblieben ist: «A Child of Our Time».

Tippetts Antrieb war die Nachricht, dass der 17-jährige Jude Herschel Grynszpan am 7. November 1938 aus Verweiflung über die Deportation seiner Familie den deutschen Botschaftssekretär Ernst vom Rath in Paris erschossen hatte. Diese Tat lieferte den Nazis einen Vorwand, ganz Deutschland mit einer Welle antisemitischer Gewalt zu überziehen.

Tippett nannte sein 1944 uraufgeführtes Oratorium «A Child of Our Time». Die Struktur des Werks orientiert sich an Johann Sebastian Bachs Passionen. Es gibt erzählende Rezitative, reflektierende Arien, handelnde Chöre. Allerdings ersetzt Tippett die lutherischen Choräle durch melodisch schlichte, aber kunstvoll mehrstimmig gestaltete Negro-Spirituals.

Für Tippett ging es nicht nur um die Verfolgung der Juden: «Ich habe allgemein das Schicksal derjenigen behandelt, die abgelehnt werden, abgedrängt aus dem Mittelpunkt des gemeinschaftlichen Lebens an den Rand der Gesellschaft: in Slums, Konzentrationslager, Ghettos.»

«A Child of Our Time» war visionär in Bezug auf die Verfolgung des jüdischen Volkes, die zur Entstehungszeit des Werks in ihrem ungeheurlichen Ausmass noch gar nicht bekannt war.

Darüber hinaus bleibt Tippetts Werk bis heute schmerzlich aktuell in einer unheilen Welt. An einer Stelle heisst es im Oratorium: «Ich müsste meinen Schatten und mein Licht kennen, damit ich endlich ganz sein würde.»

Text: Thomas Binotto