Ein Recht für einen globalen Player

Der feine Unterschied: Kirchenrecht

Ein Recht für einen globalen Player

Kirchenrecht spielt im Alltag kaum eine Rolle. Dabei bestimmt es bis heute massgeblich die weltweit aktive römisch-katholische Kirche. Zum Start in die sechsteilige forum-Serie zum Kirchenrecht sprechen wir mit deren Autor Severin Schnurrenberger.

Was fasziniert Sie am Kirchenrecht?

Severin Schnurrenberger: Das Alter. Es ist das Recht einer der ältesten konstant bestehenden Organisationen der Welt.

Wie alt ist das Kirchenrecht?

Um 1140 kann man den Ursprung des modernen Kirchenrechts ansetzen, mit dem «Decretum Gratiani», einer ersten systematischen Rechtssammlung.

Wofür braucht die Kirche heute noch ein eigenes Recht?

Die Kirche ist global tätig. Sie ist auch in Ländern aktiv, die kein funktionierendes Rechtssystem haben. Da kann ein eigenes Recht im Raum der Kirche nützlich sein. Zudem braucht jede Gemeinschaft Regeln. Es macht Sinn diese aufzuschreiben und zu formalisieren – sonst sind Willkür und Machtmissbrauch vorprogrammiert.

Hat das Kirchenrecht einen Einfluss auf das alltägliche Leben?

Ja, sobald man etwas mit der Kirche zu tun bekommt. Zum Beispiel, wenn zwei heiraten wollen: dann regelt das Kirchenrecht die kirchliche Eheschliessung.

Was sind die «Basics», die ich als Kirchenmitglied wissen sollte?

Zum Beispiel, wer überhaupt Mitglied der Kirche ist: alle Getauften. Wenn ich eine Familie gründen möchte, ist es auch hilfreich zu wissen, wer Patin oder Pate werden darf.

Wenn es um Reformen geht, heisst es oft, diese seien kirchenrechtlich nicht möglich. Stimmt das?

Das kommt auf den Fall an. Grundsätzlich ist auch das Kirchenrecht in vielen Teilen wandelbar und anpassungsfähig. Auf der anderen Seite braucht eine Gemeinschaft auch eine gewisse rechtliche Beständigkeit.

Heisst das: Sämtliche Reformen wären möglich, indem man das Kirchenrecht anpasst?

Das ist eine steile These. Bestimmt kann nicht irgendeine Person bestimmen, ab jetzt ist das Recht anders. Ich kann mir aber schon vorstellen, dass das vermeintlich unwandelbare Kirchenrecht oft auch vorgeschoben wird, um an bestehenden Strukturen festzuhalten, etwa wenn es um die Suche nach neuen Leitungsmodellen geht.

Kann man das Kirchenrecht ändern?

Es wurde immer wieder verändert. Formal sind grundsätzlich der Papst und andere geweihte Amtsträger dazu nötig. Auf Konzilien hat auch das Kollektiv der Bischöfe Veränderungen erwirkt. Aber Ideen für Reformen werden von allen Kirchengliedern entwickelt und wachsen oft aus Veränderungen in der kirchlichen Praxis heraus.

Das Kirchenrecht ist eine eigene rechtliche Struktur neben dem staatlichen Recht. Gerade bei Missbrauchsfällen hat das Nebeneinander von zwei Rechtsstrukturen auch für Verwirrung gesorgt.

Für Verwirrung gesorgt hat die Ansicht, dass das staatliche Recht nicht gelten würde für kirchliche Mitarbeitende und Kleriker – und das stimmt nicht.

War diese Ansicht schon immer falsch?

Jein, der Codex Iuris Canonici von 1917 formulierte noch solche Ansprüche gegenüber dem Staat – der das meist anders sah. Seit der Überarbeitung 1983 ist aber im Kirchenrecht definitiv klar, dass staatliches Recht auch für Kleriker gilt.

Welche Rolle spielt das Kirchenrecht bei der Aufarbeitung von Missbrauch?

Tatsächlich weniger bei der Aufarbeitung als bei der Verfolgung und Prävention: Das Kirchenrecht kann eine ergänzende Funktion erfüllen und es kann, als globales Recht, dafür sorgen, dass innerhalb der Kirche einheitliche Regeln gelten. Bei der Auswahl von Personal zum Beispiel kann das einen Unterschied machen.

Kann die Kirche sanktionieren?

Ja, aber anders als der Staat: Die Kirche hat keine Gefängnisse. Sie kann Geldstrafen verhängen. Die härteste Strafe ist die Exkommunikation: Ausschluss von Sakramentenempfang und -spende.

Welcher Kanon des Kirchenrechts ist für Sie der wichtigste?

Die Gleichwürdigkeit aller Getauften.

Text: Veronika Jehle