Mitgefangen

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Mitgefangen

Wer ins Gefängnis muss, hat im Normalfall Angehörige. Sie sind ebenso betroffen, stehen aber selten im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die ökumenische Fachstelle «ExtraMural» ändert das.

Andrea E.* sitzt an einem einfachen Tisch am Fenster, rundherum fünf Stühle. Auf dem Tisch stehen Becher, darin Kaffee, auch ein Süssgetränk steht da. Ihr Lebenspartner und die gemeinsame Tochter sitzen schon nicht mehr am Tisch. Sie haben sich in die Kinderecke verzogen, die beiden lachen, tollen herum, tauchen in ihre eigene Welt ab. Andrea E. beobachtet sie, lächelt dabei immer wieder. Sie lässt den beiden Zeit. Im Hintergrund ist Radio-Musik zu hören, an den Tischen rundherum sitzen dort und da andere, Familien oder Freunde, man geht zu einem der drei Automaten, lässt sich Getränke heraus oder Chips-Tüten. Kantinen-Atmosphäre. Exakt zur vollen Stunde läutet der Gong. An einigen Tischen erhebt man sich, umarmt sich, Kinder geben Vätern einen scheuen Kuss. Zeit zu gehen. Während Familie und Freunde gehen, bleibt pro Tischgruppe ein Mann zurück. Die Gittertür öffnet sich, dann fällt sie ins Schloss. Die Besuchszeit ist vorbei.

Tausend Fragen bedrängen Angehörige, wenn der Partner, die Partnerin oder ein Elternteil inhaftiert wird. (Foto: Keystone / Andreas Meier)

Hier, in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies, leben bis zu 399 Männer als Inhaftierte. In der Schweiz waren Anfang 2024 insgesamt knapp 6900 erwachsene Personen in Haft. Die allermeisten von ihnen haben Angehörige, Partnerinnen oder Partner, Kinder, Eltern, Grosseltern, Freundinnen und Freunde. Schätzungen zufolge – Daten wurden bislang keine erhoben – leben in der Schweiz rund 50 000 Menschen als Angehörige von Inhaftierten, davon etwa 9000 Kinder. Wer in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies inhaftiert ist, hat pro Woche Anrecht auf eine Stunde Besuchszeit. Andrea E., ihre Tochter und ihr inhaftierter Lebenspartner beziehungsweise der Vater sehen sich in der Regel alle zwei Wochen für zwei Stunden. Samstags, immer zur selben Zeit. Begleitet noch durch eine weitere Person, «angeordnete Besuchsbegleitung» nennt sich das. Sie ist für die Tochter da. Nach nunmehr fünf Jahren Haft des Vaters, zwei Jahre davon in der Pöschwies, gehört die Besuchsbegleitung für die Familie beinahe selbstverständlich dazu.

Geht es um das Justizvollzugswesen, stehen Angehörige von Inhaftierten selten im Mittelpunkt. Dabei verändert sich ihr Leben genauso fundamental wie das jener, die hinter Gitter müssen. Allermeist geschieht es plötzlich, von einer Sekunde auf die andere: festgenommen. Der Partner weg, der Vater oder die Mutter weg. Wer verdient nun den wegfallenden Lebensunterhalt? Wer übernimmt die Care-Arbeit, die Fürsorge? Wie umgehen mit den Kindern, denen ein Elternteil genommen wird? Es gehört zu den grössten Tabus in der Schweiz: Wie sage ich es – dem eigenen Kind, der Familie, in der Nachbarschaft und in der Schule? Es sind so viele Fragen, die über Betroffene hereinbrechen.

Das Leben geht für Angehörige von Inhaftierten weiter. Sie sind aber oft auch auf sich allein gestellt. (Foto: Christoph Wider)

Wenig Ressourcen für Angehörige

Bislang gab es in der Deutschschweiz wenige Ressourcen, um Angehörige in diesem schwierigen Moment zu unterstützen. Deshalb haben die katholische und die reformierte Kirche im Kanton Zürich gemeinsam die Fachstelle «ExtraMural» eingerichtet. «ExtraMural» – das bedeutet «ausserhalb der Mauern»: 60 Stellenprozent als Pilotprojekt für 3 Jahre, finanziert von den beiden Kirchen, strategisch geleitet von einer interreligiösen Steuergruppe. Ivana Mehr ist Religionswissenschaftlerin, hatte zuvor als Migrationsbeauftragte der reformierten Kirche gearbeitet und hat die Stelle übernommen, im Frühjahr 2023. Nach nunmehr anderthalb Jahren Arbeit sagt sie: «Es ist ein riesiges Feld. Sehr viele Menschen sind betroffen, die allesamt unsichtbar sind, die keine Lobby haben, die auch nicht vernetzt sind, weil sie nicht in Erscheinung treten wollen.» Und weil das so sei, brauche es jemanden, der Vernetzungsmöglichkeiten anbiete.

Es ist Pionierinnenarbeit, die Ivana Mehr leistet. Seit kurzem ist ihr Angebot auf den Webseiten sämtlicher Gefängnisse im Kanton Zürich sichtbar, da sich Angehörige oftmals zunächst im Internet informieren. Dass es «ExtraMural» gibt, beginnt sich herumzusprechen. So hat Ivana Mehr allein in den Monaten Mai und Juni knapp 20 Anrufe entgegengenommen: «Meist kurze Kontakte, bei denen es um eine erste Orientierung geht. Die Angehörigen sind nach der Inhaftierung oftmals in einer Ohnmachtsphase und brauchen die wichtigsten Infos: Was passiert jetzt?, Wo kommt mein Angehöriger hin?, Wie kann ich ihn besuchen?» Auch ein 11-jähriges Mädchen hat Ivana Mehr angerufen: Sie suche Austausch mit anderen Kindern, die ebenfalls einen Elternteil im Gefängnis hätten. Ivana Mehr greift solche Anliegen auf und versucht, Angebote zu schaffen – in Kooperation mit anderen. «Als Einzelfrau muss ich mich vernetzen, schauen, was es schon gibt, und gemeinsam etwas aufbauen.» Ein Partner dabei ist der Verein «team72», der im Auftrag von Justizvollzug und Wiedereingliederung im Kanton Zürich arbeitet und seit Winter 2022 ebenfalls eine Infostelle für Angehörige eingerichtet hat.

Gelungen ist eine solche Zusammenarbeit mit dem «Familienmobil», das seit kurzem vor der Justizvollzugsanstalt Pöschwies im Einsatz ist: ein Wohnwagen mit offenen Fenstern und Türen, immer samstags geöffnet, mit Getränken, Kuchen, Informationen und Gesprächsmöglichkeiten – für all jene Angehörigen, die auf Besuch ins Gefängnis kommen. «Es war kein Problem, dafür Freiwillige zu finden», freut sich Ivana Mehr. Auch die Bewilligung für das «Familienmobil» sei zeitnah und ohne Hürden gesprochen worden. Das Mobil wird zunächst als Pilot von Ende Juni bis Ende September im Einsatz sein. «Angehörigenarbeit ist auch beim JuWe vermehrt in den Fokus gerückt» – JuWe steht kurz für Justizvollzug und Wiedereingliederung – «Die Gründung unserer Fachstelle ist in eine gute Zeit gefallen.» Hauptgrund dafür sei, dass beim JuWe daran gearbeitet werde, die Bedingungen zu verbessern, unter denen Angehörige zu ihren inhaftierten Familienmitgliedern Kontakt aufnehmen können. Das habe Schub gegeben für die Schaffung externer Anlaufstellen wie «ExtraMural» von Seiten der Kirchen.

Rund ums Familenmobil bieten Ivana Mehr (links) und Sandra Baur (rechts) ein niederschwelliges Gesprächsangebot. (Foto: Christoph Wider)

Eine der Freiwilligen, die das Projekt «Familienmobil» schon von Anfang an begleitet, ist Emilia F.* Sie nennt es «Lieblingsprojekt», weil es ihr ein «Herzensanliegen» sei, Informationen an Angehörige direkt und unkompliziert weiterzugeben. Ihr Engagement ist tief in ihrer eigenen Geschichte begründet: Emilia F. ist selbst eine Betroffene. Als sie 17 Jahre alt war, hat sie die Inhaftierung ihres Vaters miterlebt. Studierte dann Jura, «um die juristische Maschinerie hinter solch einer Entscheidung zu verstehen», arbeitete als Strafrechtsanwältin, engagierte sich für Freiwillige. Seit Jahren und bis heute betreut Emilia F. eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von Inhaftierten in jener Stadt in Italien, in der sie aufgewachsen ist. Seit längerem schon lebt sie im Kanton Zürich und meldete sich gleich bei Ivana Mehr, als sie von der neuen Fachstelle «ExtraMural» las.

Was ihr selbst damals als Betroffene geholfen hätte? «Wenn ich mit jemandem hätte sprechen können, der sich ausgekannt hätte», erinnert sie sich. Sie und ihre Brüder seien «wie in einer Kugel» gewesen, so hätte sich das angefühlt, geschützt zwar von der Mutter und der Tante, doch isoliert. «Du weisst nicht mehr, wem du vertrauen kannst und wem nicht», wenn eine zentrale Vertrauensperson wie der eigene Vater beschuldigt und gewaltsam abgeführt werde.

Was sie damals erlebt hat, ist für sie bis heute ein Trauma: Wie es um 5 Uhr morgens an der Türe läutet, die eigene Mutter ins Zimmer kommt und schlicht sagt: «Kommst du bitte», wie gleichzeitig Polizisten im Raum stehen und einer herumschreit. «Ich war ohne Brille und ohne Kontaktlinsen, hilflos meiner Kurzsichtigkeit ausgeliefert. Ich habe diese nebelhafte Erinnerung, ich habe so viele Leute gesehen: Was machen sie? Wer sind sie? 1000 Millionen Fragen in meinem Kopf. Es war ein 9. März, ein Tag nach dem Frauentag, und ich weiss noch, wie mir als Erstes so ein Scherz durch den Kopf ging: Sind sie gekommen, weil du uns keine Blumen gekauft hast?, wollte ich meinen Vater fragen. Ach, und dann ging alles so schnell. Ich war nicht mehr so klein, aber auch noch nicht erwachsen. Es war ein grosses Chaos.»


Persönliche Ermutigung

Die langjährige Arbeit mit anderen Betroffenen habe ihr nicht nur selbst geholfen, sondern immer wieder bestätigt, dass das Reden und Austauschen über Gefühle für Erwachsene wie für Kinder und Jugendliche in dieser Situation unersetzbar wichtig sei: «Am schlimmsten ist eigentlich, dass du plötzlich nicht mehr wie gewohnt miteinander sprechen kannst. Du lebst von einer Sekunde auf die andere nicht mehr nach deinen eigenen Regeln.» Orte wie das «Familienmobil» sind nach der Erfahrung von Emilia F. ideal, um niederschwellig ein erstes Gesprächsangebot an Betroffene zu machen.

Seit das «Familienmobil» immer samstags seine Fenster und Türen öffnet, hat sich auch für Andrea E. und ihre Tochter etwas verändert: «Es ist nicht mehr nur eine Mauer mit Insassen dahinter, wenn wir zum Gefängnis kommen. Da sind jetzt freundliche Gesichter, Menschen, die wir in der Zwischenzeit kennen. Und die mal ein gutes Wort, mal einen Tipp für uns haben.» Auch wenn die beiden nach all den Jahren bereits ihre Routine haben und nicht mehr jeder Besuch grosse Fragen auslöst: «Das Angebot macht auf alle Fälle Sinn. Natürlich vor allem für jene, die jetzt neu in diese Situation kommen und viel schneller Informationen und persönliche Ermutigung bekommen», freut sich Andrea E. über die Entwicklung. Und hofft, dass das «Familienmobil» mit Ivana Mehr und all den Freiwilligen darin bleiben darf, auch dann nach Ende September.

Text: Veronika Jehle