Leitung teilen – Macht teilen

Interview

Leitung teilen – Macht teilen

Im deutschen Bistum Limburg wurden in den letzten Jahren über 60 Mass­nahmen umgesetzt, um sexuellen Missbrauch zu verhindern. Peter Platen, Mitgestalter in der Bistumsleitung, erläutert den Prozess und die Resultate.

Wer spürt die Auswirkungen der umgesetzten Massnahmen am deutlichsten?

Peter Platen: Begonnen bei der Leitung des Bistums über die kirchliche Verwaltung bis zu den Haupt- und Ehrenamtlichen – alle. Wichtig ist allerdings, dass wir auch Betroffene erreichen und sie sich ermutigt fühlen, Kontakt mit uns aufzunehmen.

Wo zeigt sich die Wirkung im Alltag?

Zum Beispiel bei der Aufstellung unserer Bistumskurie, also der Leitungskräfte. Hinter Missbrauch verbirgt sich nicht selten der Missbrauch von Autorität. Wir haben eine Sensibilität entwickelt für einsame Entscheidungen und haben, wo es organisatorisch möglich ist, geteilte Leitungen eingesetzt. Dies gilt auch für die Leitung des Bischöflichen Ordinariats, den Generalvikar. An der Seite des Generalvikars steht aber kein zweiter Generalvikar, sondern eine bischöflich bevollmächtigte Person.

Wie sieht das beim Bischof aus?

Das funktioniert so nicht (lacht).

Warum nicht?

Wir haben eine bischöflich verfasste Kirche. Daraus folgt, dass es den einen Bischof gibt, der an der Spitze der Diözese steht. Eine geteilte Leitung entspricht nicht dem Amt und der Stellung des Bischofs und würde den Rahmen dessen überschreiten, was vom Kirchenrecht her möglich ist. Diesen Rahmen des Möglichen versuchen wir nach meiner Wahrnehmung im Bistum Limburg zu bespielen. Die besondere Stellung des Bischofs bedeutet aber nicht, dass der Bischof ein «einsamer Entscheider» wäre. Der Bischof ist eingebunden in den Rat und die Empfehlung verschiedener Gremien, in manchen Fällen bedarf der Bischof sogar der Zustimmung von Gremien, um seinerseits handeln zu können.

Wie wurden die Massnahmen erarbeitet und umgesetzt?

Nachdem 2018 die MHG-Studie veröffentlicht worden war, die alle deutschen Bistümer betraf, gab es ein Folgeprojekt im Bistum Limburg, bei dem in verschiedenen Teilbereichen überlegt wurde, welche Konsequenzen die Ergebnisse der Studie haben müssten. Bei der Abschlussveranstaltung des Limburger Folgeprojektes hat unser Bischof auch vor anwesenden Betroffenen versprochen: «Ich setze das um. Und wenn es nicht dem Buchstaben nach geht, dann dem Geiste nach.» Bischof Bätzing hat dann einen Beauftragten für drei Jahre eingesetzt, um die Projektergebnisse zu implementieren. Er war der «Treiber», der uns allen sozusagen «Feuer gemacht» hat. Es gab zudem ein ausgezeichnetes Projektcontrolling, mit regelmässigen Reportings in den Bistumsgremien, und es gab ein Ampelsystem. Es war wirklich unerfreulich, wenn man selbst eine gelbe oder gar rote Ampel hinter seinem Projektteil hatte und gefragt wurde: Wie kann das sein? Es gab die Notwendigkeit, das zu erläutern.

Im Juni 2020 übernimmt Georg Bätzing, Bischof von Limburg, in der Frankfurter Paulskirche einen Bericht mit Umsetzungsplan, der von 70 Expertinnen aus unterschiedlichen Fachrichtungen im Auftrag des Bistums verfasst wurde. Bätzing verspricht den Betroffenen, die Erkenntnisse in Massnahmen zu überführen, um zukünftig ein solches Versagen zu verhindern. (Foto: Jochen Reichwein)

Das klingt nach viel Eigenverantwortung. Brauchte es nicht auch Rom?

Nein, wieso? Wie gesagt, wir haben uns bei allem im Rahmen des geltenden Rechts bewegt und diesen Rahmen genützt und ausgestaltet. Manche Vorhaben ergaben allerdings Schnittmengen mit dem synodalen Weg in Deutschland, diese konnten wir vor Ort nicht lösen.

Sie sind in der Bistumsverwaltung als Kirchenrechtler tätig. Haben Sie Anpassungen am Partikularrecht vorgenommen?

Ja. Wir haben die Vorgehensweise bei Missbrauchsmeldungen ausgestaltet und konkretisiert, wir haben Anpassungen daran vorgenommen, wie unsere Bistumskurie aufgestellt ist und wir haben etwa die Ausbildungsordnung für Priester, Diakone und pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verändert.

Wie hat der Prozess die Rolle des Bischofs verändert?

Dies kann und möchte ich nicht beurteilen. Ich denke aber, dass wir grundsätzlich auf allen Ebenen ein höheres Bewusstsein entwickelt haben, von einsamen Leitungsentscheiden wegzukommen.

Lassen sich Massnahmen gegen Missbrauch ergreifen, ohne die hierarchische Struktur zu verändern?

Wir haben die Verfassung der Kirche nicht verändert in dem Masse, dass etwas anders wäre, als es im kirchlichen Gesetzbuch ermöglicht wäre. Dass manches anders gelebt wird, ist keine Infragestellung der Autorität, sondern ein Zutrauen an andere, ebenfalls Verantwortung wahrzunehmen. Unmissverständlich bleibt das Ganze rückgebunden an den Bischof, die Rechtskraft von Entscheiden hängt von der Zustimmung des Bischofs ab. Aber im Normalfall wird der Letztverantwortliche gut beraten sein, dem profunden Votum eines Kreises Verantwortlicher zu folgen.

Manche argumentieren, dass auf diesem Weg alte Reformwünsche «durch die Hintertüre» doch noch durchgesetzt würden.

Es gibt den – wie ich finde – bösen Vorwurf, derartige Prozesse seien eine Instrumentalisierung von Missbrauch zu eigenen kirchenpolitischen Zwecken. Gleichwohl muss man vorsichtig sein: Wenn etwa in der MHG-Studie Risikofaktoren benannt werden, dann dürfen diese nicht einfach mit Ursachen für Missbrauch gleichgesetzt werden. Der Zölibat ist zum Beispiel ein Risikofaktor, das heisst aber nicht, dass er im Sinn einer strengen Kausalität eine Ursache für Missbrauch ist. Darüber hinaus ist es wichtig, dass wir nicht nur über Betroffene reden, sondern vor allem auch mit Betroffenen. Diese haben, davon bin ich überzeugt, ein waches Gespür dafür, ob es tatsächlich um Massnahmen geht, die hoffentlich zukünftig Missbrauch verhindern – oder ob andere Agenden verfolgt werden.

Was haben Sie aus all den Anstrengungen gelernt?

Die Projektorganisation ist entscheidend, um nicht irgendwann die Ziele aus den Augen zu verlieren. Bestimmt braucht es neben dem Bischof, der unverzichtbar ist, ein wirkliches Commitment der Verantwortlichen. Im Bistum Limburg haben auch die Ehrenamtlichen eine wichtige Stellung. Wir haben hier eine besondere synodale Verfasstheit im Rahmen des geltenden Kirchenrechts. So wurde das Projekt beauftragt vom Bischof zusammen mit der damaligen Präsidentin der Diözesanversammlung. Dadurch wurde von Anfang an deutlich, dass dies hier kein einsames Vorhaben des Bischofs ist, sondern das Bistum als Ganzes betrifft.

Haben Sie auch Fehler gemacht?

Die Arbeitslast war mitunter grenzwertig, was dazu führte, dass teilweise auch die Bereitschaft zurückgegangen ist. Es braucht daher von Anfang an einen wachen Blick dafür, was von den personellen und finanziellen Ressourcen her machbar ist und was nicht.

Wie haben andere Bistümer auf diesen Prozess reagiert?

Hier kann ich nur von persönlichen Wahrnehmungen sprechen. Überall dort, wo ich davon berichtet habe, habe ich durchaus Anerkennung wahrgenommen, vielleicht auch mit dem Unterton: «Seid ihr eigentlich wahnsinnig?» (lacht). Auch wenn jedes Bistum andere Herausforderungen hat, wird natürlich ein Stück weit die Latte hoch gelegt, nach dem Motto: Wieso geht das bei uns nicht? Auch an diesem Punkt bin ich vorsichtig. Man muss schauen, was die spezifischen Voraussetzungen sind, und es lässt sich nicht einfach 1:1 kopieren.

Im Bistum Limburg wurde einiges erreicht. Was ist als nächstes dran?

Als Kirchenrechtler würde ich es begrüssen, wenn das Anliegen der regionalen Verwaltungsgerichtsbarkeit endlich mit Leben erfüllt würde. Hierbei geht es um einen gerichtlichen Rechtsschutz gegen Massnahmen der kirchlichen Verwaltung: Wenn zum Beispiel ein Bischof bei der Aufhebung einer Pfarrei das Kirchenrecht nicht beachten würde, liesse sich dieses Gericht anrufen. Ich erwarte gar nicht, dass ein derartiges Gericht so viel zu tun hätte – doch dürfte allein das Vorhandensein einer Instanz, welche die Regelbefolgung der kirchlichen Verwaltung ins Auge nehmen kann, bereits einen Beitrag dazu leisten, wie Autorität in der Kirche ausgeübt wird. Ausserdem wäre es notwendig, spezialisierte Gerichte für kirchliche Strafverfahren zu haben, wie es in Frankreich und in England und Wales bereits der Fall ist und auch für die Schweiz angestrebt wird. Wie die beiden zuvor genannten Punkte besteht ein weiteres Anliegen der deutschen Bischöfe darin, eine Disziplinarordnung für Kleriker einzuführen, die es erlauben würde, Dienstvergehen mit Disziplinarmassnahmen wirksam zu sanktionieren. Diese drei Punkte umzusetzen, wäre tatsächlich sehr hilfreich.

Text: Veronika Jehle