Macht Glück glücklich?

Eine gute Frage

Macht Glück glücklich?

Eine Antwort auf zwei Zeilen: Glück zu haben, bedeutet nicht automatisch, Glück zu fühlen. Und damit weiter zur Erklärung der Antwort.

Unsere Vorstellung von Glück ist so absolut, dass es nicht einmal einen Plural dafür gibt. Gesund zu sein – das ist Glück. Stabile Beziehungen, gute Jobs, genügend Geld, schöne Wohnungen … es gibt ganz viele Parameter, an denen wir Glück zu messen versuchen.

Die Vereinigten Nationen führen sogar einen Glücksindex. 2023 stand die Schweiz dort auf Platz 9. Wir müssten also vor Zufriedenheit nur so überfliessen. Israel hingegen, seit seiner Gründung in der Existenz bedroht, dürfte man weit hinten vermuten. Das Land war 2023 aber vor der Schweiz auf Platz 5 rangiert.

Die Sache mit dem Glück scheint also doch komplexer zu sein. Es gibt dafür eben doch keine absoluten Kennzahlen, in der Art von: Einkommen über 100 000 Franken im Jahr bedeuten Glück, Wohnraum über 100 m2, Beziehungen über 10 Jahre, 1 Jahr ohne Arztbesuch.

Das gleiche Glück macht nicht jeden Menschen gleich glücklich. Auch reiche Menschen werden von Geldsorgen geplagt. Wer noch nie im Krankenhaus lag, kann sich dennoch elend fühlen. Wer nie um sein Leben fürchten musste, leidet unter Existenzängsten. Und dann wiederum gibt es Menschen, die sich glücklich fühlen, obwohl es dafür von aussen betrachtet wenig Grund gibt.

Eine absolute Vorstellung von Glück ist trügerisch, weil Glücksgefühle ausgesprochen individuell sind. Es gibt keine Glücksmassstäbe, die man anderen Menschen verordnen kann. Die Mahnung «Sei glücklich, weil …!» ist im Grunde übergriffig.

Dennoch neige ich immer wieder dazu, auf unglückliche Menschen mit einer Aufzählung all jener Dinge einzureden, die ihr Leben glücklich machen sollten. «Du hast so tolle Kinder!» – «Deine Arbeit beeindruckt mich tief!» – «Deine Wohnung ist der Hammer!» Je länger und eindringlicher meine Aufzählungen werden, desto eher dämmert es mir irgendwann, dass ich meine Nächste oder meinen Nächsten auf einem Kanal zu erreichen versuche, der im Moment nicht funktioniert. Ich kenne das auch von mir selbst: Selbst wenn ich im Kopf mein Glück anerkenne, kann es dennoch sein, dass ich davon nichts spüre. Einerseits weiss ich: «Ja, ich habe Glück.» Und andererseits fühle ich mich trotzdem gar nicht glücklich.

Einen Menschen zu lieben, der kein Glück mehr fühlen kann, ist schwierig. Jedes Wort und jedes Zeichen der Liebe scheint sich in einem schwarzen Schlund zu verlieren. In diesen Momenten hilft mir jeweils der Glaube daran, dass unsere Liebe zum Glück auch unerkannt und ungefühlt wirken kann.

Und noch eine unerwartete Erfahrung mit dem Glück: Manchmal fühle ich mich glücklich, obwohl die Situation grade ziemlich verfahren oder schmerzhaft ist.

Text: Thomas Binotto