Seit die Anwältin Andrea Gisler am 20. November 2023 die Fallbearbeitung der Meldestelle der Katholischen Kirche im Kanton Zürich übernommen hat, sind 31 Meldungen eingegangen. «Es ist ruhig geworden», sagt die Anwältin, die zwischen 2002 und 2011 Ombudsfrau der Katholischen Kirche im Kanton Zürich war.
Die Zürcher Kantonalkirche hat im vergangenen September mit dem Meldebutton rasch auf die Veröffentlichung der Pilotstudie reagiert, um ein deutliches und öffentlich wirksames Zeichen zu setzen. «Kirche schaut hin», steht auf dem Button, über den Betroffene oder Beobachtende Fehlverhalten in der Kirche anonym oder unter Angabe der eigenen Identität online melden können. «Es ist gut und wichtig, dass die Öffentlichkeit sieht, dass die Kirche es ernst meint und Massnahmen ergreift», sagt Gisler.
Für die Betroffenen da
Bei der Einführung der Meldestelle wurde diese als ein Instrument zur Kontrolle der Umsetzung des Verhaltenskodex, der im Bistum Chur seit Frühling 2022 eingeführt wurde, vorgestellt. Ebenso sollte die Meldestelle dazu beitragen eine Atmosphäre des sorgsamen Miteinanders und ein sicheres Umfeld zu schaffen. Dafür sei die Meldestelle allerdings nicht das geeignete Instrument, sagt Andrea Gisler. «Die Meldestelle dient in erster Linie den Betroffenen von Missbrauch und Fehlverhalten in der Kirche, um sich dort Hilfe zu holen.»
Geht eine Meldung ein, wertet Gisler die Angaben aus, informiert über die Rechtslage oder weist die Personen an geeignete Stellen weiter. Etwa an eine kantonale Opferberatungsstelle oder die kirchliche Personalombudsstelle. Es sei aber auch schon vorgekommen, dass sie zu einer persönlichen Aussprache zwischen den Konfliktparteien geraten habe.
In einem Fall hat Gisler Kontakt mit mehreren Institutionen aufgenommen, um herauszufinden, wo sich ein gemeldetes Ereignis vor Jahren zugetragen hat, um die meldende Person mit Informationen zu versorgen. Alle Schritte geschähen nur mit Einverständnis und unter Wahrung der Anonymität der meldenden Personen, sagt Andrea Gisler.
Zum Beispiel
Eine Person meldet, dass sie im Kindergarten von Ordensfrauen misshandelt worden sei. Die Person in fortgeschrittenem Alter hat das während ihres ganzen Lebens nicht vergessen. Andrea Gisler kontaktiert mit Einverständnis der Person verschiedene Stellen, worauf Recherchearbeiten im Archiv angestellt werden. Die Recherchen ergeben, dass in der Zeit des Kindergartenaufenthalts der meldenden Person 60 Kinder von einer einzigen Ordensfrau betreut wurden. Die Archivrecherchen haben auch ergeben, dass die prekären Umstände schon damals diskutiert wurden und Zusagen gemacht wurden, die personellen Missstände zu beheben. «Diese Informationen haben der Person geholfen, die Erlebnisse aus der Kindergartenzeit nachzuvollziehen und einzuordnen», sagt Andrea Gisler.
Unabhängigkeit verlangt Vertrauen
Die Zürcher Juristin betont, dass die Meldestelle extern und unabhängig sei. Deshalb sei sie nicht von der katholischen Kirche angestellt, sondern arbeite im Auftragsverhältnis. Niemand ausser ihr habe Zugriff auf den Inhalt der eingegangenen Meldungen. Damit gibt es aber auch keine direkte Kontrolle ihrer Arbeit. Das sei richtig so, sagt Gisler. Sie lege halbjährlich in einem Bericht an den Synodalrat Rechenschaft ab, aber letztlich sei es Vertrauenssache, dass sie ihre Arbeit richtig mache.
Ende Juni hat Gisler dem Synodalrat erstmals Bericht erstattet. Darin hat sie auch einige Empfehlungen abgegeben. Neben der Abklärung zur Zuständigkeit und Finanzierung der ausserkantonalen Meldungen, betreffen diese die Überarbeitung des Meldeformulars, das eine zu grosse erste Hürde darstelle für eine betroffene Person, die sich durchgerungen habe, eine Meldung zu machen. Auch die FAQ – die häufig gestellten Fragen – müssten überarbeitet werden. Das Meldeformular und die FAQ werden zeitnah angepasst, sagt Synodalratspräsident Raphael Meyer auf Nachfrage. Die Frage der ausserkantonalen Meldungen will der Synodalrat in Zusammenarbeit mit Gisler überprüfen.
Nationale Meldestrukturen sind notwendig
Andrea Gisler zieht ein positives Fazit zu ihrer Arbeit, weil sie die eingegangenen Meldungen in den meisten Fällen im Sinne der Bedürfnisse der Betroffenen bearbeiten konnte. Bei einigen Meldungen waren die Informationen auch nach Rückfragen nicht ausreichend, um eine Empfehlung abzugeben. Die geringe Zahl der Meldungen zu sexuellen Übergriffen wirft bei Gisler aber auch Fragen auf: Fehlt das Vertrauen zur Meldestelle? Ist die Stelle zu wenig bekannt? Liegt es an sprachlichen Hürden?
«Auf den ersten Blick ist der Umstand erfreulich, dass weniger Meldungen eingegangen sind», sagt Raphael Meyer, Präsident des Synodalrats. Dies bestätige die Wirksamkeit von Schutzkonzepten und der Sensibilisierung von kirchlichen Mitarbeitenden. Ob es aber wirklich weniger Vorfälle gegeben habe, könne nur in Kenntnis der Anzahl Meldungen bei nichtkirchlichen und staatlichen Meldestellen beurteilen werden. Auf diese Zahlen habe der Synodalrat jedoch keinen Zugriff. Zusätzliche Massnahmen – etwa das weitere Bekanntmachen des Tools – plant der Synodalrat zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Wichtiger scheine die Unterstützung beim Aufbau von nationalen Melde- und Beratungsstrukturen durch die Bischofskonferenz und die RKZ, sagt Raphael Meyer.