«Ich kann nicht die Hand ins Feuer legen, dass nichts passiert»

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«Ich kann nicht die Hand ins Feuer legen, dass nichts passiert»

Der Präsident der Schweizer Bischofskonferenz Felix Gmür im Gespräch über den Stand der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch und über sein Selbstverständnis als Bischof.

Seit der Präsentation der Missbrauchsstudie ist ein Jahr vergangen. Was waren damals Ihre Gedanken?

Es ist sehr schlimm, was da passiert ist, und zwar wegen der betroffenen Menschen. Wir müssen das erstens aufarbeiten und uns dem Leid der Betroffenen stellen. Und zweitens müssen wir alle nur möglichen Schritte unternehmen, dass das nicht wieder vorkommen kann.

Welche Massnahmen konnten Sie inzwischen umsetzen? Welche Fortschritte wurden erreicht?

Wir haben fünf Massnahmen beschlossen. Erstens geht es um die professionelle Opferberatung. Da sind wir mit den kantonalen Opferberatungsstellen im Kontakt. Wir sind dabei, das zu finalisieren. Das erfordert viel Kommunikation. Anfang 2025 kommen dazu Informationen. In allen Sprachregionen soll es wirklich unabhängige Anlaufstellen geben. Diese sind für die Betroffenen und für Angehörige. Die Meldungen werden weiterhin in den jeweiligen Bistümern, Landeskirchen oder Ordensgemeinschaften bearbeitet, wenn die betroffenen Personen das wollen. Eine Person hat auch das Recht, dass es zu keiner Anzeige kommt, wenn sie das wünscht. Die staatlichen Opferberatungsstellen sind ja die einzigen Stellen, die keine Anzeigepflicht haben, kirchliche und andere staatliche Stellen hingegen schon. Das garantiert den Betroffenen absolute Unabhängigkeit.

Zweitens geht es um die psychologische Abklärung von künftigen Seelsorgerinnen und Seelsorgern. Da arbeiten wir mit einer Stelle zusammen, die Assessments macht für Kaderleute. Hier müssen wir noch abklären, was die speziellen Erfordernisse im kirchlichen Bereich sind. Ich rechne damit, dass diese Massnahme auf das Studienjahr 2025/26 eingeführt werden kann. Wichtig ist für uns: Erst wenn die Qualität passt, kann die Massnahme umgesetzt werden.

Drittens haben wir bei den Personaldossiers klare Standards eingeführt. Da geht es nicht nur um jene in den Bistümern, auch jede Kirchgemeinde hat ihre Unterlagen. Die Selbstverpflichtung, keine Akten zu vernichten, die mit Missbrauch zu tun haben, haben inzwischen alle Bistümer, die Pfarreien, fast alle Landeskirchen und die Ordensgemeinschaften unterschrieben.

Viertens: Beim Strafgericht, ich war ja mit Bischof Joseph Maria beim Papst, warten wir noch auf die Antwort aus Rom, dann können wir das designen.

Und fünftens: Die weiterführende Forschung bis 2026 haben wir auch beschlossen. Es geht etwas weiter, und zwar kontinuierlich. Wenn Verbände und andere Institutionen beteiligt sind, dann muss man eben immer wieder auf Antwort und Fortschritte warten und das dauert dann seine Zeit.

Und im Bistum Basel? Was hat sich hier verändert?

Wir haben die Behandlung der Meldungen von Missbrauchsvorwürfen vereinheitlicht und standardisiert. Jede Meldung geht an eine externe unabhängige Koordinationsperson. Wenn uns zum Beispiel eine Pastoralraumleiterin etwas meldet, leiten wir das sofort weiter. Auch die Forscherinnen haben jederzeit Zugriff auf diese Unterlagen und die Ergebnisse werden regelmässig kommuniziert. Bei den neueren Fällen gibt es glücklicherweise keine sehr schlimmen Übergriffe. Eine Vergewaltigung, das ist ja klar, da geht man zur Polizei. Das hatten wir Gottseidank bei den neueren Meldungen nicht mehr.

Gleichzeitig passieren immer wieder Fälle wie die Verhaftung eines Tessiner Jugendseelsorgers Anfang August. Obwohl das Bistum mit den Behörden voll kooperiert, entsteht der Eindruck: Schon wieder Missbrauch in der Kirche! Ist das nicht ein Kampf gegen Windmühlen?

Das ist eine Katastrophe. Der Administrator Bischof Alain de Raemy war wirklich schockiert, es sind alle schockiert. Zugleich habe ich gelesen, dass in der Ostschweiz ein Lehrer mit einer 15-jährigen Schülerin in die Ferien fährt. Wie kann das heute noch passieren? Ich kann auch nicht die Hand ins Feuer legen, dass nichts passiert. Das kann ich nicht. Die Menschen sind, wie sie sind. Aber wenn etwas passiert und wir erfahren davon, dann wird sofort Anzeige erstattet und das funktioniert gut.

Im Bistum Basel soll ein Domherr zum Ehrendomherr ernannt werden, der sich als Vorsteher des Kirchengerichts in der Abklärung des Missbrauchsfalls Nussbaumer fragwürdig verhalten hat. Wie geht das mit dem «Kulturwandel in der Kirche» zusammen, von dem Sie gerne sprechen?

Im Bistum Basel ist es bislang gemäss den Statuten des Domkapitels Usus, dass amtierende Domherren nach ihrem Rücktritt als Domherren automatisch Ehrendomherren werden, es sei denn, sie wollen dies ausdrücklich nicht. Das Domkapitel ist frei, sich die Frage zu stellen, ob Ehrendomherren noch in die heutige Zeit passen.

Sie standen immer wieder in Kontakt mit Missbrauchsbetroffenen. Wie haben Sie diese Begegnungen erlebt?

Die ganze Bischofskonferenz hatte Kontakt mit Vertreterinnen und Vertretern der Betroffenen. Das hat wirklich die Wahrnehmung verändert. Die Schilderungen einer betroffenen Person machen auch mich als Zuhörer zu einer Art Mitbetroffenem. Das hat alle sehr mitgenommen. Auch im Basler Bischofsrat hatten wir einen Austausch mit Betroffenenorganisationen. Die Leute aus dem Bischofsrat haben damals wirklich nach Worten gerungen, um ihrer Trauer, ihrer Wut und ihrer Betroffenheit Ausdruck zu verleihen. Das Verbrechen bekommt ein Gesicht, wenn man mit Betroffenen redet. Und das verändert, indem man besser wahrnehmen kann, was das in diesen Leuten zerstört hat, auch wenn man das nie richtig nachvollziehen kann. Aber ich kann etwas von der tiefen Verletzung spüren.

Wird diese Verletzung jetzt herangelassen?

Es wird zugelassen. Und das inspiriert auch zum Handeln.

Als Bischof sind Sie Souverän und niemand in Ihrem Bistum kann Sie in die Verantwortung nehmen. Wie geht es Ihnen damit?

Sie sprechen wie ein juristischer Text, der wenig mit der Wirklichkeit zu tun hat.

Wie ist denn die Wirklichkeit?

Natürlich kann ich theoretisch alles entscheiden – und dann? Am Schluss stünde ich allein da und müsste abdanken. Sie behaupten – und meinetwegen stimmt das auf dem Papier auch –, dass der Bischof eine Person ohne Beziehungen wäre. Das ist nicht der Fall. Weder menschlich – der Bischof ist ja auch Mensch – aber auch im Amt stimmt das nicht. Unsere Ordnung ist nicht einfach eine Pyramide, an deren Spitze der Bischof steht, entscheidet und alle machen es dann. Das gilt wenigstens für das Bistum Basel.

Wie würden Sie Ihren Gestaltungsspielraum als Bischof beschreiben?

Mit der Synode haben wir einen Umbau von der Pyramide zum Netzwerk. Der Gestaltungsspielraum des Bischofs ist, dass er sich überall einbringen darf. Natürlich muss er am Ende gewisse Dinge entscheiden. Würde ich aber immer gegen alle entscheiden, würde es nicht funktionieren, weil niemand mitzieht.

Auf der anderen Seite: Jemand muss auch mal eine Entscheidung treffen. Welche Entscheide sehen Sie in Ihrer Möglichkeit und Verantwortung?

Meine Entscheide sind auf Ebene Bistum und auf Ebene Personal mit Missio canonica. Meine Entscheidungen sind meist motivatorischer Art, das heisst, ich motiviere die Leute, in einer gewissen Weise zu handeln. Wie gesagt: Meine Macht ist vor allem auf dem Papier, denn ich bin auf die Menschen angewiesen.

Machen Sie es sich da nicht ein bisschen einfach?

Im Gegenteil, das ist sogar viel schwieriger. Nehmen Sie Jesus: Er hatte seinen 12er-Kreis und ohne den 12er-Kreis wäre nichts weitergegangen. Wir sind aufeinander angewiesen, aber einer muss hinstehen, einer muss zusammenfassen, vielleicht eine Richtung vorgeben oder etwas bremsen.

Welches Bild haben Sie von Ihrer eigenen Bischofsrolle?

Ich bin gerne mittendrin und manchmal schaue ich von aussen, wie sich die Dinge entwickeln. Manchmal muss ich auch sagen: Nein, hier lang und nicht anders, weil ich es nicht anders verantworten kann.

Wann haben Sie das letzte Mal «nein» gesagt?

Als das Luzerner Kirchenparlament einen Teil der Zahlungen ans Bistum unter Vorbehalt gestellt hat und mit Forderungen verknüpft hat.

Sie waren mit Rücktrittsforderungen konfrontiert. Was haben diese mit Ihnen gemacht?

Mich hat vor allem eines gewundert: Wie schnell man meint, wenn Menschen gehen, würde alles anders. Auch hat mich gewundert – und persönlich verletzt, dass man Menschen weghaben will auf Grund von Vorwürfen, die nicht stimmen. Was mich ein bisschen sauer gemacht hat und noch heute sauer macht: dass Menschen mitreden wollen, die sich wenig mit der Sache auseinandersetzen. Das staatskirchenrechtliche System in der Schweiz ist kompliziert und man muss es erst verstehen, ehe man mitredet.

An welche Vorwürfe denken Sie konkret, die nicht gestimmt hätten?

Man hat mir vorgeworfen, ich hätte etwas vertuscht – und das stimmt einfach nicht. Ich habe mich ja selbst angezeigt.

Zum Schluss: Bischof Joseph Maria hat vor Kurzem von einem Erlebnis mit einem Sterbenden erzählt, das ihn gelassener gemacht hat. Der Kranke hatte zu ihm gesagt: «Sie sind mir zu gescheit, ich brauche einen dicken, alten Kapuziner.» Haben Sie auch so ein pastorales Lernerlebnis?

Als ich in Basel Vikar war, wurde ich einmal auf die Intensivstation gerufen. Auf dem Weg dorthin kam mir der reformierte Pfarrer entgegen: «Ah, du musst zu der Familie. Ich habe denen schon eine Art Krankensalbung gespendet, aber ich habe ihnen auch gesagt: ‹Ich kann das gar nicht richtig.› Da haben die Leute gesagt: ‹Ja, aber jetzt sind Sie da und der liebe Gott macht es dann schon richtig!›» Das ist mir geblieben: Am Schluss weiss ich, dass ich nicht zuständig bin. Am Schluss ist der liebe Gott zuständig und natürlich jeder Einzelne selber. Das relativiert auch die Aufgabe.

Text: Klaus Gasperi, Veronika Jehle, arpf