Muss man vor Demenz Angst haben?
Mir kommt vor, dass viele Menschen davor Angst haben. Sie fürchten, die Kontrolle über das zu verlieren, was sie sind und was sie tun. Vielleicht haben sie erlebt, wie sich ein Angehöriger mit Demenz verändert hat. Wenn sie hingegen merken, dass es auch gute Zeiten in der Demenz geben kann, dass Betroffene ausgeglichen sind, Freude haben an Begegnungen, dass es mitunter sogar zauberhafte Momente zu entdecken gibt – dann beruhigen sich die Ängste manchmal.
Ist Demenz ein Tabu?
Durch die Demenzstrategie, durch Medienberichte, durch Angebote in Pfarreien ist viel gearbeitet worden. Von daher ist es bestimmt weniger ein Tabu als noch vor einigen Jahren, es ist kein ganz unbekanntes Gespenst mehr. Natürlich ist es nochmals anders, wenn es einen persönlich betrifft.
Welche Themen belasten und beschäftigen Angehörige?
Oft ist es die Hilflosigkeit, die Erfahrung, dass ein Mensch in seine eigene Welt entgleitet. Ich versuche, eine Haltung des Vertrauens zu üben: Ich traue dem Menschen zu, seinen Weg zu gehen. Trotz und mit Demenz. Wir begleiten sie oder ihn, wir können der Person ihren Weg aber nicht abnehmen. Und müssen es auch nicht. Wenn ich Angehörigen von diesem Vertrauen erzähle, kann das entlastend wirken.
Ist Selbstbestimmung mit Demenz denn noch möglich?
Nicht jede Demenz und nicht jedes Stadium sind gleich. Ich bin überzeugt, dass es sehr wichtig ist, Menschen mit Demenz gut zuzuhören, auf allen Ebenen: nicht nur sprachlich, sondern wie sie sich bewegen, wie sie atmen, wie sie sich im Gesicht oder im Körper ausdrücken. Ich bleibe in der Haltung, dass Demenzbetroffene kommunizieren können, im Zweifel spreche ich einem Menschen die Fähigkeit zum Selbstausdruck zu, nicht ab.
Was bewährt sich ausserdem?
Je fortgeschrittener eine Demenz ist, um-so mehr braucht es Langsamkeit. Meine Gedanken, mein Sprechen und Handeln werden langsam, ich lasse meinem Gegenüber Zeit, die Reize zu verarbeiten. Mir selbst gebe ich die Freiheit, meine Erwartungen loszulassen, wie diese Begegnung jetzt verlaufen soll.
Ein Beispiel?
Wenn ich einen Raum betrete, achte ich darauf, dass mich die Menschen zuerst sehen können, bevor ich in ihre Nähe gehe. Ich lasse den ersten Eindruck wirken und beobachte, was mir entgegenkommt: Offenheit, Interesse? Oder eher Abwehr? Ich bleibe in dieser Achtsamkeit, wenn ich mich weiter nähere. Vielleicht kommt dann eine Willkommensgeste, ein Ausdruck von Freude in meinem Gesicht. Erst dann, wenn die Kommunikation auf all diesen Ebenen stattgefunden hat, sage ich zum Beispiel «guten Morgen». Mein Gegenüber darf Schritt für Schritt die Reize einordnen. Menschen mit Demenz können manchmal Zeichen nicht interpretieren oder verkennen sie, was dann zu Abwehr führen kann. Wir nennen das dann manchmal Aggression, dabei ist es oft eine Form, sich Grenzen zu verschaffen.
Wie gelingt es, dass spirituelle Bedürfnisse und religiöse Fragen lebendig bleiben?
Wir unterstützen und pflegen mit Menschen die Formen der Religiosität, die ihnen vertraut sind: Gebete, Lieder und Rituale. Sie sind bei vielen von Kindheit an eingeprägt und bleiben auch in einer Demenz lange erhalten. Aber auch die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, nach Teilsein von etwas Grösserem, das Bedürfnis nach Unterbrechen des Alltags im Feiern, im Fest, ist Spiritualität. Stille gehört ebenso dazu, die eben nicht allein gelassen sein heisst – sondern ein erfülltes Schweigen. Ich erlebe viele Momente, in denen ich überzeugt bin, dass diese Kommunikation von Herz zu Herz fliesst. Das ist allerdings nicht etwas, was exklusiv der Seelsorge anvertraut wäre, ich sehe es oft auch bei Pflegenden und Angehörigen, dass sie diese Bedürfnisse achten. In der Seelsorge versuchen wir, explizit Momente für das Feiern zu schaffen.