Wieso haben Sie einen Film übers Sterben gemacht?
Erich Langjahr: Vor 15 Jahren haben wir den Film «Geburt» realisiert. Damals haben wir uns gesagt, wenn wir jemals jemanden finden, den wir beim Sterben so begleiten können wie die gebärenden Frauen und die Hebammen, dann würden wir das gerne machen. Mit Michèle Bowley haben wir diese Person gefunden.
Welche Parallelen gibt es bei den Filmen über das Gebären und das Sterben?
Silvia Haselbeck: Bei der Geburt wie beim Sterben wissen wir nicht, was auf uns zukommt. Wir können es weder voraussehen noch planen. Gewiss ist aber, dass das Ereignis auf uns zukommt. Für mich ist die deutlichste Parallele, dass wir uns in diese Situationen schicken müssen.
Erich Langjahr: Weitere Parallelen waren die Intimität und Nähe im Film. Diese nahen und intimen Situationen sind Gratwanderungen. Ich erinnere mich an einen Mann, der nach dem Film «Geburt» zu mir gekommen ist und sich bedankt hat, dass er endlich bei einer Geburt habe dabei sein können. Es gab aber auch Zuschauende, denen diese Intimität zu viel war.
Silvia Haselbeck: Eine weitere Parallele war die Offenheit des Prozesses. Unsere Protagonistinnen hatten immer die Möglichkeit, die Dreharbeiten zu unterbrechen oder abzusagen.
Michèle Bowley hatte sehr klare Vorstellungen, wie sich alles abspielen sollte. War das schwierig für Sie als Filmemachende?
Erich Langjahr: Wir nehmen uns vor dem Dreh nicht viel vor. Hätten wir einen Plan, würde das die Dreharbeiten auf eine falsche Art beeinflussen. Während des Drehs erleben wir mit und erst danach nehmen wir uns viel Zeit, um über die Aufnahmen nachzudenken.
Silvia Haselbeck: Wir wollten mit Michèle Bowley zusammen erleben, wie sie mit dem Sterben und ihrem nahen Tod umgeht.
Erich Langjahr: Die meisten Menschen, ich eingeschlossen, haben die Tendenz, Sterben und Tod zu verdrängen. Bis zum Schluss habe ich mir nicht vorstellen können, dass Michèle Bowley bald nicht mehr leben wird. Mir den Tod, vor allem den eigenen, vorzustellen, ist für mich sehr schwierig.
Inwiefern hat der Film Ihr Verhältnis zum Sterben beeinflusst?
Silvia Haselbeck: Ich bin ausgebildete Fachfrau Gesundheit. Ich habe einige Menschen nahe am Tod begleitet. Michèle Bowley ist für mich in ihrem Sterben eine Mutmacherin für die Lebenden, für das, was jetzt ist. Ich bewundere Michèle Bowley dafür, wie ruhig und entspannt sie sterben konnte.
Erich Langjahr: Es gibt keinen Film, den wir gemacht haben, den ich mir so oft angesehen habe wie «Die Tabubrecherin». Ich werde ihn immer wieder anschauen, weil er Kraft hat. Diese besteht darin, dass Michèle Bowley den Schrecken des Todes in ein Abenteuer verwandelt. Für mich persönlich ist eine der Erkenntnisse des Filmes: «Wenn Michèle das geschafft hat, dann schaffe ich das auch.»
Michèle Bowley freut sich auf das Abenteuer Sterben und ist enttäuscht, als plötzlich die Hirnmetastasen verschwunden sind und sich der Sterbeprozess in die Länge zieht. Ist diese Reaktion nicht befremdend?
Silvia Haselbeck: Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass es schwierig ist, sich neu auf das Leben einzustellen, wenn vorher die Prognose lautete «Tod in drei bis fünf Monaten». Michèle Bowley hat sich in dieser Zeit darauf konzentriert, alles Wichtige zu klären und zu erledigen. Sie hat sich verabschiedet, die Buchhaltung in Ordnung gebracht, die Abdankungsfeier organisiert und vieles mehr. Und dann geht das Leben doch weiter. Das war ein schwieriger Moment für sie.
Mir scheinen Sterben und Tod Themen zu sein, die öffentlich viel diskutiert werden. Bricht Michèle Bowley wirklich ein Tabu?
Erich Langjahr: Die meisten Menschen wissen nicht, wo sie einmal kremiert werden. Das will man nicht wissen, muss man auch nicht. Aber Michèle Bowley wollte wissen, wie ein Krematorium funktioniert. Darum besuchte sie am Anfang des Filmes das Krematorium Hörnli in Basel, wo sie später kremiert wurde. Wann haben Sie das letzte Mal einen toten Menschen gesehen? Es gibt eine Verdrängung des Todes in der Gesellschaft. Michèle Bowley war Gesundheitspsychologin und hat das Öffentlichmachen ihres Todes als soziales Engagement betrachtet.
Wofür genau hat sie sich engagiert?
Silvia Haselbeck: Letztlich geht es Michèle Bowley vielmehr um das Leben als um den Tod. Ihre Botschaft lautet: «Lebe Deins – jetzt!» So lautet der Untertitel ihres Buches «Volle Pulle Leben» das sie nach dem Schwinden der Hirnmetastasten geschrieben hat.
Gab es für Sie als Filmemachende Tabus beim Drehen? Momente, in denen Sie die Kamera und den Ton weggelegt haben?
Silvia Haselbeck: Als ich Michèle Bowley auf dem Sterbebett gesehen habe, habe ich tatsächlich vergessen, den Ton aufzunehmen, darum bin ich auf dem Bild. Es war mir wichtig, bei ihr zu sein, sie zu spüren.
Erich Langjahr: Hinter der Kamera habe ich das Privileg, dass ich der erste Zuschauer des Geschehens bin. Meine Kamera zeigt nicht, ich schaue mit ihr und erlebe durch den Sucher der Kamera, was geschieht. Das Reflektieren und Denken über die Bedeutung des gedrehten Materials passiert dann bei der Montage des Films. Es war der ausdrückliche Wunsch von Michèle Bowley, dass wir sie bis zum letzten Atemzug und darüber hinaus filmen, genau so hatte sie es formuliert.
Wie ist Michèle Bowley damit umgegangen, dass sie den Film selbst nie würde sehen können
Silvia Haselbeck: Sie hat den grössten Teil des Filmes gesehen und war überzeugt, dass wir den Film in ihrem Sinne fertigstellen würden.