Biblische Bilder und Motive begleiten mich ein Leben lang. Oft gaben sie mir bei Entscheidungen wertvolle Impulse. Ich hatte eine vorzügliche Sonntagsschullehrerin, die mir nicht nur die wichtigsten biblischen Geschichten erzählte, sondern mir, dem kleinen Knirps, auch erlaubte, der Mondlandung beizuwohnen. Im Gegensatz zu uns besass sie einen Fernseher. Sonst hatte es das Leben mit ihr nicht nur gut gemeint; jung an Kinderlähmung erkrankt, ging sie mühsam an Stöcken. Ich begriff mit der Unvoreingenommenheit des Kindes, dass der Glaube ihr im Leben zur Stütze geworden war.
Der Hauptgrund, sich mit der Reli-gion der Gesellschaft, in der man lebt, auseinanderzusetzen, liegt in den Bildern, die sie anbietet. Wir dürfen diese Bilder und Motive unseren Kindern nicht vorenthalten, und wir müssen als Erwachsene eine Ahnung von ihnen haben. Die Beschäftigung mit Religion lehrt uns den Umgang mit Bildern; sie lehrt uns zu verstehen, welche Vorstellungen uns im Leben antreiben oder bremsen. Religionen fordern uns heraus, einen eigenen Standpunkt zu entwickeln.
Das wirkmächtigste Bild der Bibel ist jenes von Gott, dem Befreier. Es gehört zum Glaubensbekenntnis Israels. Der in Zürich lebende und lehrende Rabbiner Michel Bollag nennt den Sederabend, der den Auftakt zu Pessach bildet, eine «Pädagogik der Freiheit»: Die Jüngsten stellen die Fragen. Die Form des Seders entstand in Zeiten des Exils, also in Zeiten grosser Unfreiheit. Das bedeutet, dass es zuerst darum geht, im Kopf die Freiheit zu ergreifen. Diktatoren haben zu allen Zeiten versucht, die Erinnerung an dieses Bild zu unterdrücken, und jene verfolgt, die es weitergesagt haben. Gewaltherrscher fürchten seine mutmachende Kraft zu Recht.
Es gibt heute eine starke gesellschaftliche Strömung, die meint, wenn man nur die Religionen abschaffte, entstünde ein ideologiefreier Raum, und alle wären glücklich. Der ideologiefreie Raum ist selbst eine Ideologie. Es funktioniert nicht. Mit dem Nichtwissen steigen die Spannungen, und die Gräben vertiefen sich.
Bildung schafft Verstehen und Verständnis. Und verantwortungsvoll betriebene Bildung schafft eine Basis für Achtung. So wichtig der interreligiöse Dialog ist: Es ist die Schule, die die Grundlagen für gegenseitiges Verständnis schaffen muss. Man kann die Religionen erklären, ohne die Angst zu schüren, Kinder würden missioniert.
Wenn Leute meinen, «Buddha» sei die Bezeichnung für eine Statue, die in Wartezimmern oder Vorgärten steht, fehlt definitiv etwas im Bildungskanon. Wie traurig ist es, wenn ein Mensch nie von der Schönheit der Sprache des Korans hört, die Grosszügigkeit im Denken der Sikhs nicht kennt; wenn er nie etwas von Gott, dem Befreier vernimmt und keine Ahnung hat vom geheimnisvollen Zustand, den Christinnen und Christen «Reich Gottes» nennen. Welche Fehlentwicklung, wenn Religion nur im Zusammenhang mit Unaufgeklärtheit und Gewalt gesehen wird, -anstatt als Kraft, die Menschen befähigt, über sich selbst hinauszuwachsen und der Liebe den Vorzug zu geben vor der Gleichgültigkeit.