Aids ist nicht vergessen

Reportage

Aids ist nicht vergessen

Zu Zeiten der Drogenszene am Zürcher Platzspitz wurden HIV und der Tod durch Aids als grosse Bedrohung wahrgenommen. Und heute? Einblicke in eine oft vergessene Realität.

Jacqueline – Thomas – Alda. Drei Vornamen auf dem Flyer zum internationalen Welt-HIV-Aids-Tag 2024. Noch 52 weitere Vornamen schimmern einem entgegen auf schwarzem Hintergrund. Einer nach dem anderen. Dezent, aber gut sichtbar. «Alles Menschen, die ich kannte», sagt Bruno Willi.

In den 17 Jahren, in denen der Theologe und Sozialarbeiter die HIV-Aidsseelsorge leitet, hat er viele Betroffene beim Sterben begleitet. Er hat aber auch erlebt, wie sich vieles verändert hat mit dem HI-Virus und mit Aids: Heute gilt die Krankheit als medizinisch «gelöst», selbst wenn sie nicht heilbar ist. Das Humane Immundefizienz-Virus, wie das HI-Virus ausgeschrieben heisst, ist bei Therapie unter Kontrolle. Es kann das Immunsystem und die körpereigenen Abwehrkräfte nicht mehr zerstören. Dazu reichen in der Regel ein bis drei Medikamente, täglich eingenommen. Wer sich heute infiziert, erhält also kein Todesurteil. Und Aids, dieser Cocktail aus schweren Erkrankungen, die einen mit geschwächtem Immunsystem sterben lassen, bricht nur dann aus, wenn man die Medikamente zu spät bekommt oder gar nicht genommen hat. Wer sie allerdings nimmt, ist nicht ansteckend. Auch beim Sex nicht.

«Die wenigsten Menschen wissen das», sagt Bruno Willi, so wie in seiner Wahrnehmung überhaupt die wenigsten Menschen genug über HIV und über Aids wissen: Dass HIV nicht gleich Aids ist. Dass HIV nicht einfach eine «Schwulenkrankheit» ist. Und auch, dass sich das HI-Virus weiterhin verbreitet. Rund 16 500 Personen in der Schweiz leben mit dem HI-Virus, zirka 300 Personen jährlich wird es neu diagnostiziert, und etwa drei von 100 Betroffenen wissen nicht, dass sie das Virus tragen. «HIV ist weiterhin Thema in unserer Gesellschaft», weiss Willi, «und es ist so stark tabuisiert wie keine andere Krankheit.» Bruno Willi stellt eine Frage: «Was passiert, wenn du das Wort HIV hörst oder Aids?» Bei den meisten gehe ein innerer Film los und rufe dramatische Bilder wach: die Drogenszene der 80er-Jahre, Platzspitz in Zürich, freizügige Sexpartys, homosexuelle Exzesse, aber auch Sextourismus, Prostitution, Zürcher Langstrasse. «Wer die Diagnose HIV-positiv bekommt, erbt diese ganze Geschichte.» Zwar seien diese Vorstellungen nicht grundsätzlich falsch, das Virus habe sich tatsächlich unter diesen Umständen verbreitet und tue es teilweise immer noch. Aber es sei nicht die ganze Wahrheit: «Die Realität ist viel komplexer», sagt Willi und erzählt die Geschichte einer Frau, die sich in ihrer Ehe bei ihrem Mann angesteckt habe, der fremdgegangen war – eine Geschichte, die kein Einzelfall sei. «Menschen wie diese Frau können nichts dafür und tragen dennoch den ganzen historischen Rucksack der Krankheit mit.» Das mache es ungeheuer schwierig, zu der Krankheit zu stehen und über sie zu sprechen. Betroffene hielten HIV oft geheim, selbst vor ihren Familienmitgliedern, Partnerinnen, Partnern.

HIV bringt Betroffene zum Schweigen
Das erleben auf ihre Art auch Ernesto, Erika und Martin, die in Wirklichkeit alle anders heissen. Ernesto erzählt, er halte die HIV-Diagnose in seiner Partnerschaft geheim, seit ein Exfreund ihn nach der Trennung öffentlich in den sozialen Medien geoutet habe. Das habe ihn schwer getroffen, und: «Warum muss ich es erzählen, wenn ich sowieso nicht ansteckend bin?» Erika hat sich noch in den 1980er-Jahren mit HIV infiziert und hat jene Zeit erlebt und durchgemacht, als es zunächst noch keine und dann Medikamente mit starken Nebenwirkungen gab. Sie spürt neben den Langzeitfolgen beständig sozialen Druck, sobald andere von ihrer Krankheit wissen: «Durch meinen damaligen Lebenswandel bin ich ja gewissermassen selbst schuld daran. Und jetzt belaste ich seit Jahren die Krankenkasse, beziehe IV-Rente. Wenn es mir trotzdem an einem Tag gut geht, habe ich den Eindruck, ich müsste mich dafür rechtfertigen.» Martin hat sich 2018 infiziert, als er in ein Burnout stürzte. Sein anfängliches Bedürfnis «es allen zu erzählen», sei sehr schnell verflogen, als er merkte, wie er auf die Krankheit reduziert wurde. Heute spreche er nur mit zwei oder drei engsten Vertrauten darüber: «Meine Krankheit ist Privatsache.»

Bei allem Respekt vor Privatsphäre kennt Bruno Willi auch das Gegenteil von Geheimhaltung: in Lethargie oder in Gleichgültigkeit zu verfallen. «Betroffene sollen sich nicht damit abfinden müssen», ist er überzeugt. Das sei der Auftrag der HIV-Aidsseelsorge: Einen Raum anzubieten, in dem offen gesprochen werden kann, wo Betroffene sich austauschen und Unterstützung erhalten – und das seit den dramatischen Anfängen in den 1980er-Jahren, als auch die HIV-Aidsseelsorge bald gegründet wurde, bis heute. Wenn Erika sich an diese Anfänge erinnert, dann kommen ihr die Gesprächsgruppen in den Sinn, zu denen sie sich über Jahre alle zwei Wochen getroffen hätten, «sehr intensiv, sehr wertvoll». Martin, der viel später zur HIV-Aidsseelsorge stiess, sagt: «Ich war erstaunt, wie zielgerichtet und unkompliziert da gearbeitet wird. Als Mensch wurde ich nicht bewertet, was in dieser Situation einmalig war. Und ich konnte Sozialberatung in Anspruch nehmen, die ich dringend gebraucht habe, mir aber nicht selbst hätte leisten können.»

Ein Ort für «LGBTQIA+»
Hiess HIV-Aidsseelsorge in den Anfängen also vor allem akute Unterstützung in Lebenskrisen und Sterbebegleitung, ist sie heute zur Alltags- und Lebensbegleitung für vulnerable Hilfesuchende aus queeren Gruppen geworden. So schreiben es die Verantwortlichen in ihrer Strategie für die Jahre 2020 bis 2025. «Queere Gruppen» erfasst jene, die sich unter dem Dach «LGBTQIA+» sammeln, also beispielsweise Lesben, Schwule, trans- und bisexuelle; aber auch Menschen mit Migrationserfahrung oder jene im Sexgewerbe. In all diesen Fragen ist neben der Seelsorge die Sozialberatung wesentlich geworden. Wer mit Reto Tschan, zuständig für Sozialberatung, unterwegs ist, erlebt genau das: Begegnung auf Begegnung, Gespräch auf Gespräch. Vielfältigste Menschen, Lebensgeschichten in all ihrer Dramatik und Schönheit, kurz erzählt oder ausführlich geschildert, vor Ort bei der HIV-Aidsseelsorge oder im Regenbogenhaus, einem Ort für LGBTQ-Personen beim Zürcher Hauptbahnhof. Dort bietet Reto Tschan einmal pro Woche Sozialberatung an. Kostenlos, als Beitrag der HIV-Aidsseelsorge. Und flexibel, so wie es für die Betroffenen eben möglich ist. Zwischen einem Gespräch und dem nächsten sagt Reto Tschan den schönen Satz: «Flexibilität ist ein Ergebnis von Verständnis.»

Ein Ergebnis von tieferem Verstehen ist wohl auch, dass es die HIV-Aidsseelsorge als Angebot der Katholischen Kirche im Kanton Zürich immer noch gibt. Denn während sich manch andere aus der Aufgabe zurückgezogen haben – oftmals, weil HIV angeblich kaum noch ein Thema sei – macht die Kirche hier weiter. Die römisch-katholische Kirche mit ihrer rigiden Sexualmoral öffnet und finanziert Räume für Menschen in ihrer – auch sexuellen – Vielfalt? «Ich habe kirchlich nie Ablehnung gegenüber diesem Engagement erlebt», sagt Bruno Willi. «Im Gegenteil: Eher Menschen, die da waren und gehandelt haben.» Und sowieso gehe es hier nicht um Kirche. Sondern um Menschen.

Text: Veronika Jehle