«Ich kann, ich will, ich bin.»

Editorial

«Ich kann, ich will, ich bin.»

Kann ich alles, was ich will, wenn ich nur ausreichend mentale Stärke aufbringe oder mir diese antrainiere? Bin ich das, was ich erreiche, durch das, was ich will und kann?

Solche Fragen stellen sich vor allem – aber nicht nur – jungen Menschen auf der Suche nach ihrem Platz im Leben. Besonders drängend werden diese Fragen in einer Gesellschaft, die Erfolg und Leistung als Lebensziele und Glücksgaranten propagiert.

Da ich bei allen schriftlichen Arbeiten unserer jetzt erwachsenen Kinder die Komma- und Tippfehler-Finderin der Wahl bin, lese ich jetzt die Dokumentation zum Bachelor-Projekt unseres jüngsten Sohnes. Darin sind einige Texte von jungen Menschen, die ungeschminkt und ehrlich von ihren Erfahrungen des Scheiterns erzählen. Es geht nicht um oberflächliche kleine Enttäuschungen, sondern um verlorene Lebensentwürfe, das Gefühl, keinen Boden mehr unter den Füssen zu haben. Die Texte gehen direkt ins Herz.

Das Projekt wird als Performance aufgeführt und beschäftigt sich musikalisch, mit Licht und Projektionen mit diesem Thema. Die Sätze: «ich kann, ich will, ich bin» ploppen auf und verschwinden wieder. Im Moment des Scheiterns leuchtet diskret an der Wand nur noch: ich bin. 

Vor meinem inneren Auge entsteht ein Bild: Im Moment, wo wir von unseren Fassaden des «ich kann» und «ich will» entblösst nur noch «sind», sehe ich den gekreuzigten Gott, der, sogar seines Gottseins entblösst, nur «ist». Und ich ahne: In diesem völlig nackten Moment des Scheiterns kann sich unser Sein mit der göttlichen Kraft verbinden und verwandelt werden. 

Alle Texte dieser jungen Menschen, die nichts Religiöses beinhalten, zeigen mir dieses innere Sein, das durch das Scheitern gleichermassen erschüttert und gefestigt wurde. 

Will ich, kann ich oder bin ich?

Text: Beatrix Ledergerber