Schöpfung gegen Widerstände

Interview

Schöpfung gegen Widerstände

Die Sagrada Família ist eine Basilika im Bau. Filmregisseur Stefan Haupt war vom ersten Moment an fasziniert.

Seit 140 Jahren, seit der Grundsteinlegung 1882, wird an der Sagrada Família gebaut. Was meinen Sie: Wird sie jemals vollendet werden?

Leider ja.

Leider?

Ein Arbeiter, der an der Sagrada Família mitbaut, sagte sinngemäss: Das Wichtigste daran sei das Bauen, also der Prozess. Gemeinsam an etwas dran sein, das immer weiter wächst und immer weiter belebt wird.

Sie haben einen Dokumentarfilm über die Sagrada Família verwirklicht. Warum?

Ich war 2007 in Barcelona für einen anderen Film und ging in die Sagrada Família, per Zufall und weil es mich interessiert hat. Glücklicherweise war sie damals auch im Innenraum noch im Bau, wie man es auch im Film sieht: Presslufthammer, lärmig und staubig, irgendwo war ein Radio angestellt, Arbeiter, die geraucht haben, daneben ein Schild «Silencio por favor». Ein solches Werk im Bau zu erleben, hat mich begeistert.

Blick in die Basilika Sagrada Família in Barcelona. Foto: Keystone

Was hat Sie daran fasziniert?

Das Nebeneinander zu hören von diesem Transistorradio, das irgendwelche Popmusik spielt – und dazu die Stille, die im Raum bereits spürbar war. Eine spannende Diskrepanz: Es entsteht ein spürbar sakraler Raum – mitten in einer sehr lebhaften Stadt und in einer Zeit, wo sich Kirche und Sakralität an den Rand der Gesellschaft bewegen. Dann ist mir die Ambivalenz aufgefallen: Du kommst von draussen, aus dem Lärm hinein in ein Haus, in dem etwas von gemeinsamer Arbeit spürbar wird. Kurz gesagt: Es hat mich einfach fasziniert, dass die da am Bauen sind. Und zwar kein Shoppingcenter, kein Fussballstadion und keinen Militärflugplatz, auch keine Autobahn, sondern eine Kirche.

«El misteri de la creació» (Das Geheimnis der Schöpfung) – so heisst Ihr Film aus dem Jahr 2012 im Untertitel. Was ist das, dieses Geheimnis?

Für mich hat es mit der Erfahrung zu tun, dass sich Gedanken materialisieren können. Das erlebe ich auch in meiner Arbeit als Filmemacher. Es gibt den zündenden Moment: Das wär was! Und dann folgt ein Prozess, vom Samen, der da gesetzt ist, über viele Schritte der Entstehung – bis sich das Werk materialisiert. Für mich ist das Schönheit, wenn Menschen zusammen für etwas arbeiten, das grösser ist als sie selbst. 

Sie betonen das Gemeinsame.

Ja, das ist beim Bau der Sagrada Família sehr schön sichtbar: Es braucht Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich selbst einbringen können. Mit ihrer ganzen Schöpferkraft. Und gleichzeitig darf es nicht kippen, sodass sich jemand in seiner Domäne als Alleinherrscher fühlt. Dann kann es sehr schwierig werden, weil das gemeinsame Ganze nicht mehr im Mittelpunkt steht. Für Gaudí war es völlig klar: Nach seinem Tod würden andere da sein, die das Werk weiterführen. Das ist für mich eine schöne Haltung – im Gegensatz zu den «Ich-bin-das-Genie»-Fixierten.

Wenn wir von Antoni Gaudí sprechen, dem Architekten der Sagrada Família: Gerade um ihn wird auch ein Geniekult betrieben. Was halten Sie davon?

Ich habe Schwierigkeiten mit Etiketten. Gaudí, ein Genie: Das würde heissen, dass wir ihn von uns abtrennen, ihm Qualitäten zuschreiben, die «Normalsterbliche» nie haben können. Aber klar, er war sicher ein überaus beschenkter, hochbegabter Mensch. Und die Arbeiter der Sagrada Família sehen in ihm bis heute ihren Übervater.

Wie oft waren Sie für die Dreharbeiten vor Ort?

Ich war von 2008 bis 2012 immer wieder dort, sieben Mal waren wir am Filmen. Das konnte für zwei Tage sein – als der Papst für die Einweihung der Basilika zu Besuch kam – bis hin zu einer ganzen Woche.

Was haben Sie mit dem Bauwerk erlebt?

Grossartige Erlebnisse beim Drehen und mit den vielen beseelten Mitarbeitenden. Zunächst allerdings Schwierigkeiten. Wenn es einen Oscar gäbe für den Erhalt der schwierigsten Drehbewilligung – dann wären wir mit «Sagrada» sicher unter den Nominierten.

Wie erklären Sie sich das?

Die Presseabteilung war unglaublich darauf bedacht, nichts Negatives an die Öffentlichkeit kommen zu lassen. Ich glaube, das hat auch mit dem Machtgefüge der katholischen Kirche zu tun.

Inwiefern?

Man will bestimmen, wie über die Kirche gesprochen wird. Ein Beispiel: Der Steinmetz Etsuro Sotoo, ein Japaner, ehemals Zen-Buddhist, der zum katholischen Glauben konvertierte. Er darf zu Wort kommen, so viel er will. Aber dann der Künstler Josep Maria Subirachs, der aus tiefstem innerem Gewissen und eigener Schöpferkraft das Ganze durch eine, wie ich finde, sehr spannende Passionsfassade bereichert hat, dafür aber auch angefeindet wurde. Er sagt von sich selbst, er sei Agnostiker. Dies im Film zu benennen, schien bereits zu viel zu sein, das sollte lieber verschwiegen werden. Jeder offene und dadurch vielleicht auch kritische Blick auf die Sagrada Família wurde als Angriff gesehen.

Im Film kommt Subirachs dann aber doch ausführlich zu Wort.

Durch meinen Film «Ein Lied für Argyris» hatte ich Kontakt zum Musiker Jordi Savall, der wiederum mit dem damaligen Präsidenten der «Fundació Sagrada Família» befreundet war. Durch ihn erhielten wir die Möglichkeit, unseren Film «Sagrada» zu realisieren.

Hat sich der Aufwand gelohnt?

Auf jeden Fall! An der Premiere des Films in Barcelona ist etwas geschehen, das mich tief berührt hat. Viele der Mitarbeitenden und Protagonisten waren anwesend. Sie alle kamen nach dem Film nach vorne, verneigten sich – und plötzlich umarmen sich der damalige Chefarchitekt Jordi Bonet und der Architekt David Mackay, einer seiner grössten Kritiker. Nachher kam ein katalanischer Filmemacher zu mir und sagte: «Bist du dir eigentlich bewusst, was du geschafft hast? Du hast hier Leute zusammengebracht, die im wirklichen Leben nie ein Wort miteinander sprechen würden.»

Blick in die Basilika Sagrada Família in Barcelona. Foto: Alamy

Es muss Gründe geben, warum diese Kirche weitergebaut wird, trotz aller Widerstände. 

Die Suche nach Schönheit und das Bedürfnis nach sakralen Orten, nach Kraftorten, das ist beileibe nicht ausgestorben. Ich glaube auch, dass Gaudí einen Samen gepflanzt hat, der stark ist: Am Beginn stand der Wille, Sühne zu leisten. Das finden wir gegenwärtig wieder in der Suche, etwas gutzumachen und – etwas Gutes zu machen.

Für jemanden, der noch nie dort war: Wie würden Sie die Sagrada Família beschreiben?

Eine Sphinx: unnahbar, eine Mischung aus verschiedenen Wesen. Die Sagrada Família hat für mein Gefühl etwas, das weit über eine dogmatisch-ideologisch eingefasste enge Religiosität hinausgeht. Sie hat auch etwas Wucherndes, mit all diesen Fingern, die als Türme in die Höhe steigen. Wie ein Rätsel, ein grosses Rätsel.

Text: Veronika Jehle