Stille entdecken

Festival «Stilles Zürich» in der Stadt

Stille entdecken

Stille scheint ein seltenes Gut zu sein – vor allem in einer Stadt wie Zürich. Müssen wir uns zurückziehen, um sie zu finden? Wo steckt sie, die Stille?

«Bei Stille kann ich nicht arbeiten», sagt eine Kollegin und macht in ihrem Büro Musik an. Ganz leise allerdings – «damit ich dich nicht störe», ruft sie zu mir hinüber. «Danke», sage ich und empfinde es auch, ich kann nämlich nur dann arbeiten, wenn es still ist. Stille scheint nicht für alle Menschen dasselbe zu sein.

Stille ist laut

Meine beste Freundin und ich, beide damals noch recht jung, waren in einem Kloster für Tage der Stille. Wir wollten «es» ausprobieren. Nun ja, grundsätzlich passierte nicht viel. Womöglich war uns etwas langweilig, womöglich waren wir auch ein wenig enttäuscht. Ich weiss noch, wie wir uns verlangsamt durch den schönen Kreuzgang bewegten und plötzlich ich an eine der Seitentüren trat. Sie führte irgendwohin. Und sie war offen. Einige winkelige Gänge weiter abermals eine Türe, schöner und grösser, auch sie war offen. Als wir eintraten, standen wir überraschend in einer Kirche, viel kleiner als die mächtige Klosterkirche, aber nicht minder schön. Die Tür fiel ins Schloss – und wir waren in einer Stille, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Wie ich sie in meinem Leben noch nie gehört hatte. Reine Stille. Stille, so still, dass sie mächtig laut war. Wahrscheinlich standen wir bloss wenige Minuten da – es war Ewigkeit. Seither höre ich die Stille, wenn ich sie mir in Erinnerung rufe. Ich kann sie hören, auch im grössten Wirbel. Und ich kann «in ihr sein», ob nun viel passiert oder nicht.

Stille als Qualität

Ich geniesse es, mit Menschen zu sein, in deren Gegenwart ich den Eindruck habe, dass sie keine Angst vor der Stille haben. Dass sie diesen Raum kennen, in dem sie mit sich selbst allein sein können. Denn in der Stille spreche zunächst vor allem «ich» zu mir, in der Stille bin ich mir selbst in Ruhe ausgesetzt. Ich verstehe, warum das für manche und in manchen Situationen bedrohlich sein kann. Manchmal ist die Stille Balsam, manchmal flüchte ich mich regelrecht in sie, und manchmal spüre ich sehr genau, dass ich sie für den Moment besser meide. 

Für mich ist die Stille zu einem Grundton geworden. Stille ist in allem. Und überall. Wo ist die Stille? In der Natur, kommt mir als Erstes in den Sinn. Im Unterschied zur lauten Stadt. Das ist interessant, denn eigentlich ist es in der Natur mitnichten still. Ungern erinnere ich mich an die Nacht in jener Berghütte, die an einem laut rauschenden Bergbach lag. Wer in der Nacht schon draussen im Wald war, ohne Taschenlampe, weiss, wie laut der Wald sein kann. Umgekehrt erlebe ich kaum schöner wunderbare Stille als an einem Sonntagmorgen mitten in der Stadt. Stille tritt gerne in den Hintergrund. Bis zu ihrer neuen Entdeckung.

Text: Veronika Jehle