Wozu verzichten?

Essay

Wozu verzichten?

Im Lifestyle wird Verzicht gerne als Heilmittel gegen das Leiden am Überfluss angepriesen. Wer nichts hat, leistet jedoch nicht Verzicht, sondern leidet ­Mangel. Auseinandersetzung mit einem schwierigen Begriff.

Verzichten ist im Trend – obwohl das Wort nach wie vor freudlos klingt. Es wird mit Lustfeindlichkeit verbunden. Und immer noch hängt ihm der Geschmack von religiöser Selbstkasteiung an, mit der man sich einen besonders guten Platz im Jenseits verdienen will.

Vielleicht ist das der Grund dafür, dass Verzicht als Lifestyle gut getarnt auftritt. Man reinigt seine Psyche durch Digital Detox, verschlankt den Haushalt nach der Methode von Marie Kondo, fastet sich die Gifte aus dem Leib, träumt von einem Tiny House, möglichst einem beweglichen, oder bewundert Frugalisten, die sich das Geld vom Mund absparen, damit sie mit 40 in Pension gehen können.

«Reduce to the max» lautet das Motto von Verzichtsleistungen, die vor allem der Selbstoptimierung dienen.

Die Ökumenische Fastenkampagne lag also mit ihrem diesjährigen Slogan «Weniger ist mehr» im Trend. Gleichzeitig hat sie sich damit aber auch auf heikles Terrain begeben, weil es sehr entscheidend ist, von welcher Warte aus man «Weniger ist mehr» liest.

Reduktion ist nur möglich, wenn es etwas abzugeben gibt. Sei es Macht, Stärke, Geld oder Ressourcen. Und es spielt eine gewaltige Rolle, bei wem das Mehr ankommt. Wer nichts hat, kann auch nicht verzichten. Er leidet Mangel. Für ihn heisst es «Weniger ist weniger».

Freiheit macht den Unterschied
Verzicht und Askese werden aus dem Überfluss geboren. Die Gründer der grossen Bettelorden – Franziskus und Dominikus – stammten beide aus wohlhabenden Familien.

Niklaus von Flüe, Charles de Foucauld, Mutter Teresa, Abbé Pierre und wie sie alle heissen: Sie kamen durchwegs aus wohlhabenden Verhältnissen und haben freiwillig auf Reichtum verzichtet. Für sie war die Reduktion eine Möglichkeit, kein Zwang. Kaum vorstellbar, dass eine Armutsbewegung je von besitzlosen Menschen ausgehen könnte.

Eigentlich ist es offensichtlich, und doch muss man es sich immer wieder bewusst machen: Verzichten zu können ist ein Privileg. Es wird durch Haben und durch Freiheit möglich.

Sein Hab und Gut in einen Camper zu packen und auf Reisen zu gehen, hat nichts gemein mit einer Flucht, auf die man lediglich ein paar Habseligkeiten mitnehmen kann.

Die Reise mit kleinem Gepäck wird häufig mit Freiheits- und Abenteuerlust begründet, selbst wenn sie im Glamping endet. Zur Flucht dagegen drängen Auswegslosigkeit und Lebensbedrohung. Und meist wird die «Reise» in einem Flüchtlingslager brutal gestoppt.

Es wäre deshalb blanker Zynismus, den Menschen im Gaza-Streifen ein Heilfasten zu empfehlen. Flüchtlingen im Lager die Verschlankung des Haushalts ans Herz zu legen. Landstriche ohne Strom und Internetanschluss zum Paradies der digitalen Entspannung zu erklären. Nordkorea als ökologisches Vorbild zu preisen, weil die Menschen dort nirgends hinfliegen können.

Verzicht für das Gemeinwohl
Der freiwillige Verzicht hat seine Berechtigung und für die Entwicklung einer solidarischen Gesellschaft sogar seine Notwendigkeit. Allerdings grenzt dieser Verzicht sich von einer egozentrischen Selbstoptimierung ab.

Der Philosoph Otfried Höffe betont deshalb vor allem die gesellschaftliche Funktion des Verzichts. Er beschreibt dazu vier Verzichtsmuster. Das alltäglichste und dennoch verblüffendste: Wir verzichten im Rechtsstaat auf Freiheit. Und zwar um der Freiheit willen! Wir lassen uns einschränken, damit möglichst alle an der Freiheit teilhaben können. Dieser Verzicht dient sowohl dem Eigenwohl wie dem Gemeinwohl. Er ist die Grundlage für ein gutes Leben – sowohl für uns wie für andere.

Bereits als Kinder werden wir zu diesem freiwilligen Verzicht erzogen. Wir entwickeln Triebkontrolle, Frustrationstoleranz und die Bereitschaft zum Belohnungsaufschub. Wir lernen das Ablassen vom Wunsch, alles immer und sofort und ganz für sich zu haben. 

Wer verzichtet, der muss also aushalten, dass weniger zunächst tatsächlich weniger ist. Das neue Mehr ist eine Investition in die Zukunft. In der Hoffnung, dass sich dieses Mehr dann auch tatsächlich realisieren wird. Wer beispielsweise seinen Energieverbrauch drosselt und auf Flugreisen verzichtet, der tut dies in erster Linie für die nachfolgenden Generationen.

Die Nächsten im Blick
Alle Religionen kennen die Askese, dieses Einüben in den freiwilligen Verzicht. Aber sie sind sich gleichzeitig bewusst, dass sogar das Verzichten in Besitzdenken umschlagen kann, wenn man sich zum «Hochleistungsverzichter» aufpumpt und damit ein neues Prestige erwirbt.

Bis man sich über die anderen nicht so vollkommenen Menschen erhaben fühlt. Die mittelalterliche Theologie erkannte darin eine Überheblichkeit, in der sich der Mensch zum Mass aller Dinge macht, zum Götzen seiner selbst.

Der Mystiker Heinrich Seuse (1295/97–1366) erzählt in seiner Autobiografie, wie er mit extremen Verzichtsleistungen und Selbstquälungen möglichst christusähnlich werden wollte. Bis ihm in einer Vision klar wurde, dass das ganz alltägliche Leben genügend Herausforderungen stellt, die es auszuhalten gilt. Das Leben selbst lehrte ihn das Einüben in den Verzicht.

Das Motto «Weniger ist mehr» braucht also dringend eine Präzisierung: Für wen gilt das Weniger und für wen gilt das Mehr? Die Ökumenische Fastenkampagne gibt darauf eine klare Antwort: Sie fordert die Wohlhabenden zum Verzicht zugunsten jener auf, die wenig bis nichts haben.

Das Motto wird also nicht als Weg zur Selbstoptimierung verstanden – auch nicht in spiritueller Hinsicht. Es geht vielmehr um das Wohlergehen aller Menschen. Das Ziel ist nicht Verzicht um seiner selbst willen, sondern Verzicht für das Gemeinwohl – das auch die Verzichtsleistenden einschliesst. Diese Art von Verzicht ist politisch relevant, weil sie weit über das Private und den persönlichen Lifestyle hinausgeht. 

Die Faustregel für einen Verzicht, der tatsächlich nachhaltig und verändernd in die ganze Gesellschaft wirken kann, ist seit jeher die Goldene Regel, die in unterschiedlichen Ausformulierungen in allen Philosophien und Religionen zu finden ist: «Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.»

Jesus Christus wendet diese negativen Verzichtsformel auf geniale Weise ins positive Gebot zur Nächstenliebe: «Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst!»

Text: Thomas Binotto