Beethovens Neunte wird 200

Essay

Beethovens Neunte wird 200

Die «Ode an die Freude» aus Beethovens 9. Sinfonie ist ein Monument der Kulturgeschichte. Das heiligste Werk des säkularen Bürgertums. Der Musikwissenschaftler Clemens Prokop schaut sich den Heiligenschein dieses Werks genauer an.

Vor 200 Jahren wurde Beethovens monumen-tale 9. Sinfonie zum ersten Mal aufgeführt und wurde zum Mass aller musikalischen Dinge. Als nämlich Anfang der 1980er-Jahre die CD auf den Markt kommen sollte, um die Schallplatte zu verdrängen, stellte sich die Frage, wie gross die Scheibe überhaupt werden sollte. Gross genug jedenfalls für Beethovens Neunte: Der Star-Dirigent Wilhelm Furtwängler hatte 1951 in Bayreuth mit 74 Minuten Aufführungsdauer die Messlatte gesetzt. Und die übersetzen sich in einen CD-Durchmesser von 12 Zentimetern. Passt in jede Tasche.

Damit war ein Werk wieder eingefangen, mit dem Ludwig van Beethoven 1824 alle Dimensionen gesprengt und eine Klasse für sich geschaffen hatte. Allein die zeitliche Ausdehnung des Werks: absolut atemberaubend.

Aber sein eigentlicher Geniestreich war, diesen riesigen Anlauf – bei Furtwängler dauert er um die 50 Minuten – nur deshalb zu nehmen, um im Schluss-Satz Friedrich Schillers «Ode an die Freude» die Bühne zu bereiten. Ein Leben lang hatte sich Beethoven mit dem Gedanken getragen, diesen vor Pathos glühenden Text zu Musik werden zu lassen.

In seiner letzten vollendeten Sinfonie fand er endlich einen ganz und gar unerhörten Zugang, indem er Sängersolisten und gemischten Chor zum grossen Orchester holte. Das kannte man so bislang nur aus frommen Kantaten von Bach oder Händel.

Die bürgerliche Welt erhält ihre Liturgie

Der liturgische Anklang ist natürlich volle Absicht. «O Freunde, nicht diese Töne», beginnt der säkulare Evangelist. «Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere.»

Was dann kommt, ist in aller Komplexität so genial einfach, dass es jedes Kind mitpfeifen kann und in der zweiten Klavierstunde als Aufgabe mit nach Hause nimmt. Gleichzeitig steigert sich der Rausch hin zur damals rein männlich formulierten ultimativen Utopie, dem Paradies auf Erden: «Alle Menschen werden Brüder!»

Vielen gilt seither vor allem deshalb die Neunte als Gipfelpunkt menschlicher Zivilisa-tion und als Goldstandard für eine Musik als wahre Weltsprache der Herzen. Wissenschaftler, etwas nüchterner, sehen in ihr das «Gründungswerk von Weltanschauungsmusik». Deshalb ist seither immer dann, wenn Friede, Freiheit und Mitmenschlichkeit feierlich beschworen werden sollen, die Neunte meist nicht weit. Die über Jahrhunderte ungestillte Sehnsucht nach einer besseren Gesellschaft, nach Harmonie unter den Menschen – sie findet wenigstens in Beethovens Musik Heimat.

Die Macht der Musik wird beschworen

Es überrascht unter diesem Gesichtspunkt nicht, dass die Neunte untrennbar mit der deutschen Nachkriegsgeschichte verknüpft ist. Leonard Bernstein dirigierte die Sinfonie zum Fall der Mauer. Es wurde ein legendäres Ereignis, für das Bernstein Schillers Text zu einer «Ode an die Freiheit» umdeutete. Auch am Vorabend der Wiedervereinigung erklang die Neunte, zum letzten Staatsakt der DDR, dirigiert von Kurt Masur.

Nicht zufällig folgen staatliche Rituale und Inszenierungen bis heute religiösen Vorbildern. Und dazu gehört ganz wesentlich das Wissen um die Macht der Musik. Sie berührt, sie erhebt, sie gibt einer grösseren Idee Gestalt – und sie schafft im gemeinsamen Zuhören Momente einzigartiger Erfahrung.

Bis heute unübertroffener Zeremonienmeister von solch quasi liturgischen Feiern bleibt Herbert von Karajan. Sein Konzert 1968 mit den Berliner Philharmonikern ist Sternstunde und heisser Youtube-Tipp: Wie ein Schlafwandler dirigiert er bis zum Finalsatz mit geschlossenen Augen. Karajan scheint diese Musik nur zu träumen und wie in einem unheimlichen Zauberkunststück geschieht alles ohne auch nur die geringste Mühe. Es ist pure Magie und Musik aus einer anderen Welt.

Die Neunte ist, wie Richard Wagner mit gewohnt grosser Geste und durchaus im Sinn der eigenen Agenda behauptete, das «menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft». Wagner sieht darin den unüberbietbaren Endpunkt einer alten Welt und gleichzeitig den Schlüssel 
für eine neue Welt.

Die Grenzen der Wirkung werden aufgezeigt

Und dann kommt Alex. Mitten in die romantisch-religiöse Überhöhung der Neunten hinein erzählt Stanley Kubrick 1971 in seinem Film «A Clockwork Orange» die Geschichte des fanatischen Beethoven-Fans Alex. Der brutale An-führer einer Jugendbande feiert gewissenlose Gewaltexzesse, vergewaltigt und mordet. Beethovens Musik macht etwas mit ihm – sie macht ihn nur nicht zu einem besseren Menschen.

Wie kein anderer Regisseur hat Stanley Kubrick in seinen Filmen immer wieder ikonische Verbindungen mit klassischer Musik geschaffen. In «A Clockwork Orange» bleibt es nicht beim Soundtrack, der den Bildern eine unerwartete Aura und Atmosphäre gibt. Hier bricht Beethoven ständig und in hundert Anspielungen in die Handlungsebene ein, bis hin zur Türklingel. Kubrick zelebriert provozierende Musikvideos zu Beethovens Musik. Er zwingt zusammen, was nicht zusammenpassen darf. Und er zeigt damit, dass man mit Musik alles machen kann. Auch die verstörend schockierende wie mitreissende Pervertierung.

«Wo man singt, da lass dich ruhig nieder», behauptet der Volksmund, «böse Menschen haben keine Lieder.» – Wie schön wär’s, wenn das so einfach wäre! – Zu Adolf Hitlers Geburtstag führte 1942  ausgerechnet Wilhelm Furtwängler mit den Berliner Philharmonikern die Neunte auf. Und auch Josef Stalin erkannte das demagogische Potenzial der «Ode an die Freude». Sie sei die «richtige Musik für die Massen» und könne nicht oft genug aufgeführt werden. Im Sowjetreich war sein Wunsch natürlich Befehl.

Die Neunte übersteht alles

Die Geschichte von Beethovens Neunter ist gerade im 20. Jahrhundert auch eine beispiellose Geschichte der Vereinnahmung. Besonders im zerstörten, besiegten und schuldverstrickten Deutschland verknüpft sich mit der Sinfonie eine Sehnsucht nach dem Guten in der deutschen Seele, denn immerhin Schiller und Beethoven blieben als Säulenheilige deutscher Kultur bestehen. Die «Ode an die Freude» wurde erst zur Interims-Hymne im Westen Deutschlands und bewährte sich als musikalische Brücke, wenn gesamtdeutsche Mannschaften bei Olympia antraten.

Von Rowan «Mr. Bean» Atkinson gibt es eine sehr lustige Nummer, die ihn beim festlichen Versuch zeigt, die «Ode an die Freude» als Hymne anzustimmen. Das geht eine Strophe lang gut, bis er merkt, dass seine Noten unvollständig sind. Jetzt hilft auch kein Schütteln, sondern nur der Mut zur Improvisation. Und so kauderwelscht Atkinson als Bariton Robert Bennington auf die Schnelle alles raus, was ihm an deutschen Begriffen in den Sinn kommt. Es ist, wenn man so will, ein sehr britischer Blick auf deutsche Leitkultur.

Es hat offenbar seinen guten Grund, dass sich die Europäische Union als Hymne von Karajan eine Instrumentalversion der Ode schreiben liess, um «die Einheit in der Vielfalt» zu feiern. Auch das ein sehr frommer Wunsch!

«Wir sollten Beethoven nicht aufführen, aus-ser wir meinen es wirklich ernst», mahnte der Regisseur Peter Sellars einmal in einer flammenden Rede. – Genau genommen muss das für alles gelten, was uns heilig ist.

Text: Clemens Prokop