Nähe durch Stille

Leben in Beziehung

Nähe durch Stille

Vor einigen Jahren entdeckte ich beim Durchscrollen meiner sozialen Netzwerke eine Story, die im farbenfrohen Vintage-Design zu einem «Rave» einlud.

Mit Raves werden seit den 80er- und 90er-Jahren grosse, manchmal geheime Partys mit elektronischer Musik und effektvollen Lichtshows bezeichnet. Sie sind Vorläufer einer Subkultur, die bis in die heutige Zeit reicht und zahlreiche Teenager und junge Erwachsene zum Feiern anlockt.

Diese Anzeige, an die ich hier erinnere, galt jedoch einer anderen Art von Rave. Anstelle lauter Technomusik wurde verinnerlichte Stille angeboten. Anstelle von wildem und ekstatischem Tanzen wurde ich eingeladen, in alternative Welten meiner Wahl einzutauchen, ohne dabei meinen Sitzplatz zu verlassen.

Der Name der Veranstaltung lautete «Silent Reading Rave». Man sollte sich also zum Lesen in Stille treffen! Und genau das wurde als etwas Modernes und Cooles beworben, obwohl zumindest unter der Mehrheit junger Menschen ausgerechnet das Lesen nicht unbedingt diesen Ruf geniesst.

Wie funktioniert ein solcher Rave? Nun, es ist ganz einfach: Man schnappt sich ein Buch, setzt sich in einem Café, einem Park oder auch einem Yogastudio zusammen hin, um dann in Ruhe, aber in Gesellschaft zu lesen. Jeder Mensch geht mit einer eigenen Geschichte in der Hand persönlichen Interessen und Vorlieben nach. Das kann ein Roman, Fachliteratur, die Zeitung oder eine Graphic Novel sein.

Dieses Lesen in Gesellschaft war eine wunderbare Erfahrung, die mich an meine Kindheit erinnerte, als ich abends mit meiner Familie las. Gemeinsam lesen schafft einen vertrauensvollen Raum, in dem es nicht so sehr darauf ankommt, wer man ist und was man über die Welt denkt, in dem man einfach Mensch ist. Man kommt, weil man auf der Suche ist. Alle brauchen ab und zu Zeit für sich selbst. Dass dieser Raum in der Gesellschaft von anderen gefunden und geteilt wird, ist eine schöne Ironie.

Während Corona konnten diese Veranstaltungen dann leider nicht mehr stattfinden, zumindest nicht auf die gleiche Weise. Wie viele andere Orte des öffentlichen Lebens wurden sie in die digitale Welt verlagert. Über Streaming-Plattformen konnte die Gemeinschaft, die sich im gemeinsamen Für-sich-Lesen gebildet hatte, weiter gepflegt werden.

Weshalb kommt mir das alles ausgerechnet jetzt in den Sinn? Weil ich gerade wieder auf einem solchen «Silent Reading Rave» war und ich immer noch die Kraft der kollektiven Stille sehr geniesse. Ich bin aufs Neue begeistert, wie unerwartet und ungewöhnlich das Erlebnis ist, wenn eine Gruppe von Menschen einen öffentlichen Raum übernimmt und sich zum Lesen hinsetzt. Der Ort wird im Handumdrehen in einen sicheren, wohltuenden Ort des Friedens und des Miteinanders verwandelt.

Text: Sebastián Guerrero, Physik-Doktorand an der ETH Zürich