Seit Jahren bete ich im Gottesdienst das bekannte Bruder-Klaus-Gebet zu Beginn der Auslegung biblischer Texte und werde oft darauf angesprochen. Man ist irritiert und entrüstet, erfreut und beglückt. Jahrzehnte lang habe ich im Unterricht jeweils zu Beginn eine Heiligenlegende erzählt und ausgeschmückt. Die Christopherus-Legende ist auf meinen Leib geschrieben. Meine durch und durch reformierte Seele sieht oft schärfer und tiefer dank dem Blick auf die Heiligen.
Ulrich Zwingli und Heinrich Bullinger, die Reformatoren von Zürich, bezogen sich in ihren Schriften immer wieder auf Bruder Klaus. Sie waren überzeugt, dass sich seine Kritik am Verkauf von Manneskraft an fremde Armeen wie auch seine Grundhaltung, sich für den Frieden in der Welt und der Eidgenossenschaft einzusetzen, aus einem grossen Gottvertrauen nährte.
In allen Religionen gibt es Menschen, die sich in ihrem Leben, Glauben und Sterben unbedingt dem Auftrag von Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung in Gottes Namen verpflichten. Sich an sie zu erinnern, ist gefährlich. Gefährlich deshalb, weil ich nicht mehr in der Kirchenbank sitzen bleibe. Ich werde dorthin hinausgetrieben, wo Krieg und Not zum Himmel schreien.
Seit 20 Jahren treffen sich alle byzantinisch- und orientalisch-orthodoxen Kirchen um den 11. September, den Tag der Stadtheiligen Felix, Regula und Exuperantius, um und im Grossmünster. Mit Gesängen und Gebeten tragen sie die Gebeine der Stadtheiligen in einer Prozession vom Lindenhof übers Fraumünster und die Wasserkirche ins Grossmünster. Mit ihren verschiedenen Traditionen und Klängen, Ritualen und Gebeten verwandelt sich das Grossmünster zum Klangraum, in dem Menschen etwas davon fühlen und spüren, was sie «heilig» nennen. Einmal hat mir Stadtrat Robert Neukomm zugeflüstert, als die Prozession an uns vorbeizog: «Sag liebe Grüsse der Kirchenpflege. Was wir hier erleben, ist Friedensarbeit für die Stadt. Wir vom Stadtrat sind auf solche Friedensarbeit von euch Kirchen angewiesen.»
Das koptische Geschwisterpaar Felix und Regula war auch für Ulrich Zwingli ein prägendes Vorbild. Deshalb feierte er neben Weihnachten, Ostern und Pfingsten an ihrem Gedenktag zum vierten Mal im Jahr das Abendmahl. Dieser reformiert geprägte Respekt wurde mir in all den Jahren wichtig. Erstens dürfen wir nicht vergessen, dass unser Stadtleben von Menschen mit Migrationshintergrund gegründet und bis heute geprägt wird. Zweitens ist es in Zürich erlaubt, bisweilen den Kopf zu verlieren, wie es Felix und Regula für ihren Glauben im 4. Jh. vorgelebt haben. Es ist nicht schlimm, wenn einem alles über den Kopf wächst, wenn man heillos überfordert ist und ich nicht mehr weiss, wo mir der Kopf steht. Drittens steht das Grossmünster dafür ein, dass mir unverfügbar und überraschend in Gottes Namen immer wieder Dinge geschehen, sodass ich das Gefühl habe, einen neuen Kopf geschenkt zu bekommen. Nicht immer, doch bisweilen geschieht es, dass es dann in mir zu beten beginnt, wie Bruder Klaus mich gelernt hat: «Mein Gott und mein Herr, nimm mich mir, und gib mich ganz zu eigen dir. Mein Gott und mein Herr, nimm von mir alles, was mich hindert zu dir. Mein Gott und mein Herr, gib mir alles, was mich fördert zu dir.»