Hokuspokus … Vorurteil

Reportage

Hokuspokus … Vorurteil

Der 17. Oktober ist der Welttag zur Überwindung der Armut. In Winterthur wurde die Armut zum Thema gemacht: unter anderem durch ein «Vorurteils-Orakel».

Als Virginia Hauptlin bei der Türe hereinrauscht, kommt Leben in die Bude. «Du suchst dir jetzt bitte das Rezept, die Zutaten stehen ja schon da und dann fängst du bald einmal an», weist sie ihre Kollegin hinter dem Tresen an, laut und deutlich. Dann schiebt sie ein ebenso lautes Lachen nach, schliesslich kennt und schätzt man sich, hier im «Treffpunkt Vogelsang». Der Treffpunkt ist ein soziales Projekt, direkt neben dem Bahnhof Winterthur, offen für alle und rege genützt, vor allem von Menschen mit kleinem Budget. Virginia Hauptlin, Teil vom Leitungsteam, und ihre Kolleginnen und Kollegen sind heute im Stress. Draussen müssen die Tische vorbereitet werden, drinnen sollte der Teig für die geplanten Crêpes nun bald einmal fertig sein. Der «Treffpunkt Vogelsang» richtet nämlich einen Anlass aus: den Welttag zur Überwindung der Armut, heute und an den drei Tagen bis zum 17. Oktober. Der 17. Oktober wird international begangen und ist seit 1992 durch die Vereinten Nationen offiziell anerkannt. Dieser Tag bedeutet Virginia Hauptlin «sehr viel», wie sie später sagt: «Es ist ein Tag, an dem wir Armutsbetroffenen dazu stehen, dass wir armutsbetroffen sind. Es gibt keinen Grund, uns zu verstecken!»

Dass Armut in der Schweiz überhaupt ein Thema ist – viele Menschen sind sich dessen kaum bewusst. Armut ist weitgehend unsichtbar. Um das zu verändern, spannen an diesem 17. Oktober in Winterthur gleich vier Organisationen zusammen. Zum einen der «Treffpunkt Vogelsang». Zum anderen die internationale Bewegung «ATD Vierte Welt», deren Freiwillige sich auch in Winterthur engagieren und auf dessen Gründer die Initiative zum 17. Oktober zurückgeht. Weiter «youngCaritas Zürich», der Jugendbereich der Caritas Zürich, in dem sich junge Menschen einsetzen für Sensibilisierung zum Thema Armut. Und schliesslich ist da das sogenannte «Vorurteils-Orakel». Die Kunstvermittlerin Selina Lauener und die Szenografin Sonja Koch sind seine Initiantinnen. Für diesen Tag zur Überwindung der Armut haben sie es vor dem «Treffpunkt Vogelsang» aufgebaut.


«Vorurteils-Orakel» schafft Öffentlichkeit

Ein Orakel? Zum Thema Vorurteile? Sonja Koch erklärt die Idee dahinter: «Du bekommst etwas – und so ist es dann», das funktioniere doch an diesen Orten namens «Orakel» so, an denen andere einem etwas über das eigene Schicksal verkündeten. Das sei bei einem Vorurteil ganz ähnlich, ergänzt Selina Lauener: «Letztlich wird es dir an den Grind geworfen», und sie führt weiter aus: «Bei einem Vorurteil wirst du mit einer Zuordnung konfrontiert und du wirst nicht gefragt, wie du das selbst findest. Vielleicht begegnest du dem Vorurteil immer wieder und immer wieder wird dir gesagt, es hätte etwas mit dir zu tun – es wird dir wahr-gesagt.» Das sei auch bei Vorurteilen rund um das Thema Armut so. Als Beispiele nennen die beiden Vorurteile wie jenes, dass armutsbetroffene Menschen ungebildet oder sogar dumm seien, dass sie selbst an ihrer Armut schuld seien. Den beiden ist es ein Anliegen, über solche Zusammenhänge mit Passantinnen und Passanten ins Gespräch zu kommen. Einen Dialog anzustossen. Sich auseinanderzusetzen mit derart gesellschafts-relevanten Themen. Im öffentlichen Raum.


«Hundeliebhaberinnen … sind grob»

Wer sich mit dem «Vorurteils-Orakel» auseinandersetzt, dem wirft es zunächst einmal selbst ein Vorurteil an den Kopf. Genauer gesagt: Es druckt einem eines aus, schwarz auf weiss. Teil der Installation ist ein Tablet, das einlädt, drei verschiedenen Gruppen einzutippen, denen man sich selbst zuordnet. «Hundeliebhaber:innen» steht da zum Beispiel, oder «religiöse Menschen» oder «Männer». Daraufhin wählt das Programm zufällig eine dieser eigenen Zugehörigkeiten aus und verbindet sie mit der Aussage eines Vorurteils. Ausgedruckt erhält man dann einen Satz wie: «Hundeliebhaberinnen integrieren sich nicht und sind grob» oder «Schüler können nicht Multitasking» oder «Akademikerinnen sind dümmer als andere Frauen». Auf welche Personengruppe das Vorurteil «… sind dümmer als andere Frauen» wohl ursprünglich tatsächlich bezogen war? Jedenfalls zeigen sich zwei Dinge schnell: Wie oft Vorurteile in ihrer inhaltlichen Aussage zufällig und austauschbar sind – und wie absurd sie im Grunde sind. Selina Lauener sagt: «Wir wollen es noch absurder machen, indem die Sätze völlig zufällig produziert und neu kombiniert werden.» Die Installation führt dann aber noch einen Schritt weiter. 

Am dritten Tag der Installation hängen dicke Bündel an Vorurteilen auf weissen Streifen an verschiedenen Haken. Denn wer sich durch das Orakel be-vor-urteilen lässt, muss das Vorurteil nicht zu sich nehmen. Gleich in den Müll? Ein Kübel hängt parat. Oder an einen der Haken gehängt? Die meisten Streifen hängen am Haken, der mit «So ein Quatsch» beschrieben ist. Andere hängen unter «Solche Aussagen sind problematisch!», manche auch bei «Voll ins Schwarze getroffen!». Dass ihr Orakel provoziert, anspricht, manchmal auch triggert – in den meisten Fällen aber in eine Auseinandersetzung führt, das erleben Sonja Koch und Selina Lauener, wann immer sie damit öffentlich unterwegs sind. Sie scheinen nicht die einzigen beiden zu sein, die das überzeugt.


Armut ins Gedächtnis rufen

Edith Weisshar zum Beispiel sagt, dass sie sich «kindlich gefreut» habe, als sie vom «Vorurteils-Orakel» gehört habe. Die Theologin, die seit rund 40 Jahren der Bewegung «ATD Vierte Welt» verbunden ist, engagiert sich im «Treffpunkt Vogelsang» und ist seit Jahrzehnten persönlich unterwegs mit armutsbetroffenen Menschen. Das hier sei nun etwas Neues: «Das Thema wird von einer anderen Perspektive angesprochen, nämlich von der künstlerischen – und noch dazu witzig!», schwärmt sie. Auch «youngCaritas Zürich» wäre wohl nicht Partnerin im Projekt, wenn sie vom Ansatz nicht überzeugt wäre. «Du wirst wirklich mit dir selbst und mit deinen Vorurteilen konfrontiert», erzählt Lina Leuenberger. Sie möchte Soziale Arbeit studieren und ist als Freiwillige von Seiten von «youngCaritas Zürich» am 17. Oktober in Winterthur dabei. Als Virginia Hauptlin, das organisatorische Herz dieser Tage, am «Vorurteils-Orakel» vorbeikommt, gibt auch sie sich begeistert: «Es gibt so viele Vorurteile gegenüber Armutsbetroffenen. Das muss einfach einmal mehr gesagt und ins Gedächtnis gerufen werden!»

Als die Abendsonne sich über diesem 17. Oktober zeigt, zücken Selina Lauener und Sonja Koch einen Heissluftfön. Ein ausgedrucktes Vorurteil nach dem anderen schwärzen sie damit, machen es unleserlich, vor den Augen der Öffentlichkeit. In diesem Moment sollen Vorurteile nichtig sein.

Text: Veronika Jehle