Wir treffen uns im Berner Generationenhaus. Markus Christen, Armutsbetroffener, Mirjam Zbinden, Projektleiterin «Nationale Plattform gegen Armut» und Annelise Oeschger von ATD Vierte Welt begrüssen sich herzlich. Sie sind drei der insgesamt 36 Teilnehmenden der Studie «Armut – Identität – Gesellschaft» und haben während vier Jahren intensiv zusammen gearbeitet. «Wir haben miteinander gerungen, aber auch zusammen gegessen und die Pausen verbracht», erzählt Markus Christen. «Dieses übergreifende Zusammensein auch in der Freizeit war – im Nachhinein betrachtet – wohl eine Bedingung, dass wir diese Studie gemeinsam zu Ende gebracht haben. Da entstand das gegenseitige Vertrauen, wir sind richtig zusammengewachsen!» Das sei sogar den Angestellten im Berner Hotel National aufgefallen, wo die Studie am 9. Mai 2023 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, sagt Annelise Oeschger: «Unter uns war eine riesige Wiedersehensfreude». Annelise Oeschger war von der Bewegung ATD Vierte Welt aus in der Steuerungsgruppe der Studie engagiert. «Zuerst dachten viele: Wir verstehen uns nie, wir haben so verschiedene Bildungsniveaus und Erfahrungen», erinnert sie sich. «Und dann dieser tolle Abschluss!»
Möglich war diese Erfahrung dank der Methodik des «Wissen-Kreuzens». Dabei wird das Wissen aus der Lebenserfahrung von Armut betroffener Menschen in einen Dialog mit wissenschaftlichem und professionellem Wissen gebracht. Die Studienfragen wurden zuerst in Gruppen bearbeitet, in denen die Menschen aus demselben Wissensbereich unter sich waren, damit sie sich frei äussern konnten. Dann wurde das dort Erarbeitete im Plenum mit allen abgeglichen und weiterentwickelt. Während drei Jahren traf man sich dazu jährlich zwei Tage, die Steuer- und Begleitgruppe bereiteten diese «Wissenswerkstätten» in mehreren Sitzungen jeweils vor und nach.
Der Umgang mit von Armut -betroffenen Menschen ist meist immer noch nicht auf Augenhöhe.
forum: Was war die grösste Herausforderung der Methode des «Wissen-Kreuzens»?
Mirjam Zbinden: Für uns, die wir in sozialen Berufen tätig sind, war es zu Beginn schwierig, nicht in eine Abwehrhaltung zu kommen. Oft wurde das Erfahrungswissen aus der Armut als Vorwurf empfunden und viele fanden: «Ich hab das aber anders erlebt, das ist doch gar nicht so.» Wir mussten lernen, zuerst zuzuhören und das Gehörte nicht gleich abzuwerten, sondern: die eigene Sicht der Dinge in Ruhe zu platzieren und anzunehmen, dass unterschiedliches Wissen erst mal nebeneinander steht.
Annelise Oeschger: Zu Beginn wurden grundlegende Begriffe ganz unterschiedlich interpretiert: Was ist Armut? Was ist Institution? Zum Thema «Manipulation» gab es bei Fachleuten Reaktionen von grosser Betroffenheit bis hin zu Zurückweisung. Sie sagten: «Wir manipulieren doch nicht!». Da waren wir gezwungen, den Begriff gemeinsam zu definieren. Mit der Zeit wurde deutlich, dass manchmal subtil und versteckt Macht ausgeübt wird – gegen die man sich nicht wehren kann und wodurch man sich hilflos, machtlos, in seiner Identität verletzt fühlt – und so die Kraft zum wirkungsvollen Handeln verliert.
Markus Christen: Wir haben jedoch alle auf Augenhöhe und gleichberechtigt miteinander gearbeitet, da hat man keine Hierarchien gespürt. Dass ich mir das selber zugetraut habe, hat viel damit zu tun, dass ich acht Jahre in Basel soziale Stadtrundgänge angeboten habe. Die Projektleiterin sagte uns immer: «Ihr seid die Experten, nicht der Professor der Fachhochschule! So müsst ihr auftreten!» Das habe ich acht Jahre lang trainiert. So konnte ich jetzt hier in dieser Studie meine Stimme überzeugt einbringen. Und tatsächlich haben alle aus den drei Wissens-ebenen auf dem gleichen Level gearbeitet. Am Anfang war Skepsis da. Aber das Wichtigste für mich: Es hat funktioniert, trotz der Skepsis!
Armutsbetroffene sollten so früh wie möglich und so lang wie möglich im Sinne eines Coachings begleitet werden.
Die Studie hatte sich zum Ziel gesetzt, die Beziehungen zwischen Institutionen, der Gesellschaft und Menschen in Armut in der Schweiz aufzuzeigen. Und die Erkenntnis ist hart: Es ist «eine Gewalterfahrung, die weitergeht». Denn: «Ein Grossteil der Gesellschaft begegnet der Armut mit Unverständnis oder macht sie sogar unsichtbar». Dazu gehört auch das Vorurteil, Armut sei selbstverschuldet. Diese Sicht führe zu «einer Dysfunktion der Institutionen: Menschen in Armut werden darauf reduziert, ‹Objekte› statt ‹Subjekte› zu sein, und verlieren ihr Recht auf Selbstbestimmung», hält der Bericht fest. Dies wirkt sich auf ihre Identitätsbildung aus: «Anstatt sie selbst zu sein, muss die von Armut betroffene Person sich ständig beherrschen, verbergen, unterordnen.» Dies führt zu einem Lebensgefühl, das sich von Generation zu Generation weitervererbt: Bei allem guten Willen und allen Ressourcen sei es daher sehr schwierig, aus der Armut herauszukommen, ist das Fazit der Studie.
Die Erkenntnis der Studie ist schon ein wenig niederschmetternd, oder?
Annelise Oeschger: Ja, in diesen drei Jahren sagten wir immer wieder: Trotz aller Bemühungen, auch auf gesetzlicher Ebene, hat sich nichts geändert. Das ist tatsächlich auch eine der wichtigsten Erkenntnisse im Bericht: Es gibt da und dort Ansätze. Aber der Umgang mit von Armut betroffenen Menschen ist meist immer noch nicht auf Augenhöhe.
Markus Christen: Deshalb ist es so wichtig, dass von Armut betroffene Menschen auf allen Ebenen einbezogen werden. Dazu sollten Fachleute in Sozialer Arbeit bereits während der Ausbildung in Kooperation geschult werden.
Mirjam Zbinden: Fachpersonen, Verwaltungen und soziale Institutionen müssen realisieren, dass es machbar und nützlich ist, wenn die Betroffenen mitreden. Auch damit man nicht an den Bedürfnissen vorbeiplant. Wir haben ge-rade gestern an einem Workshop zusammen mit Armutsbetroffenen einen Vorschlag erarbeitet, wie sie sich auf Bundesebene bei allen sie betreffenden Themen dauerhaft beteiligen könnten.
Fachpersonen, Verwaltungen und soziale Institutionen müssen realisieren, dass es nützlich ist, wenn die Betroffenen mitreden.
Die Studie hält «notwendige Entwicklungen» fest. Welche sind Ihnen besonders wichtig?
Markus Christen: Armutsbetroffene sollten so früh wie möglich und so lang wie möglich im Sinne eines Coachings begleitet werden. Das beginnt, wenn jemand aus dem Arbeitsprozess fällt, und muss weitergehen, falls die Person in die Sozialhilfe kommt. Wenn jemand das Glück hat, wieder Arbeit zu finden, muss sie weiter begleitet werden, sonst ist die Gefahr gross, dass nach drei Monaten wieder alles im Eimer ist. Das ist politisch schwierig, da teuer. Aber wenn die Menschen lang andauernd aus allen Netzen herausrutschen, kosten sie mehr.
Mirjam Zbinden: Genau. In Winterthur hat man das ausprobiert: Es wurden im Rahmen eines Pilotprojekts mehr Sozialarbeitende eingesetzt, damit diese jeweils weniger «Fälle» begleiten konnten. Sie haben das wissenschaftlich evaluiert und herausgefunden, dass man dabei tatsächlich spart. Nun werden die zusätzlichen Stellen definitiv beibehalten.
Annelise Oeschger: Die wichtigste Piste ist für mich die Änderung der Art, wie über Menschen in Armut gedacht und geredet wird. Bei Entwicklungen wie Mietzins- oder Energiekosten-Erhöhungen und Steigerung der Krankenkassen-Prämien wird in den Medien gerne eine von Armut betroffene Person hinzugezogen, um ein konkretes Beispiel zu haben. Aber wir wollen mehr. Armutsbetroffene sollen nicht nur einzelne Erfahrungen, sondern gemeinsam ihr Kollektivwissen einbringen können. Nur so kann die Stigmatisierung und die Zuweisung von Schuld aufhören.
Gibt es konkrete Ansätze in diese Richtung?
Markus Christen: Das Thema muss in die Politik kommen. Ich kandidiere im Kanton Basel Stadt für die Grossratswahlen. Ich sehe ganz klar das Thema Armut als Zentrum meiner politischen Arbeit. Armut ist ein genauso wichtiges gesellschaftliches Thema wie Wirtschaft, Landwirtschaft oder Arbeitspolitik.
Annelise Oeschger: Die Hochschulen für Soziale Arbeit in Fribourg, Bern und Zürich planen oder setzen bereits Ausbildungsprojekte um, in denen die Studierenden die Möglichkeit bekommen, mit Betroffenen zusammenzuarbeiten. So entdecken sie, wie wichtig es ist, deren Wissen zu berücksichtigen, um ihre künftige Arbeit gut zu machen.
Mirjam Zbinden: Die Nationale Plattform gegen Armut, bei der ich Projektleiterin bin, fördert diese Art der Zusammenarbeit. Unsere Zielgruppen sind Fachpersonen von Sozialdiensten, Arbeitsämtern sowie Kantone und Gemeinden. Da gibt es einige Projekte mit Gruppen von Betroffenen, die sich zum Beispiel bei der Verbesserung von Abläufen in Sozialdiensten oder bei der Ausbildung von Sozialarbeitenden an Fachhochschulen einbringen können.
Nach dem intensiven Gespräch geht es zum Fototermin nach draussen in den Park des Generationenhauses. Die drei setzen sich an einen Tisch – und schon bald ist der Fotograf vergessen. Annelise Oeschger, Mirjam Zbinden und Markus Christen sind sofort wieder ganz vertieft ins Gespräch, vertraut, interessiert aneinander, und trotz allem freudig optimistisch.