Meine «Lange Nacht der Kirchen»

Reportage

Meine «Lange Nacht der Kirchen»

Am Freitag, 2. Juni 2023, war «Lange Nacht der Kirchen». Zum vierten Mal in der Schweiz, diesmal in 11 Kantonen mit knapp 1800 Events. Eva Meienberg war für uns in Zürich unterwegs.

Im Bistro auf dem Kirchenhügel sitzen die Gäste in der Abendsonne vor einem Aperitif. Den Aperol Spritz verkneife ich mir, sonst schaffe ich mein straffes Programm durch die «Lange Nacht der Kirchen» nicht. Vis-à-vis in der Alten Kirche Altstetten gibt Pfarrerin Muriel Koch dem Service-Team die letzten Instruktionen. «Zu jeder Stunde haben wir während einer Viertelstunde einen Riesenstress», warnt sie das elfköpfige Team. In 15 Minuten müssen die zwei langen, festlich gedeckten Tische im Kirchenschiff wieder in Ordnung gebracht werden für die Gäste der nächsten Abendmahlsgemeinschaft. Punkt 18 Uhr sitze ich mit rund 20 Gästen an der Tafel. Der Mann, der mir gegenübersitzt, wohnt im Quartier und kommt regelmässig hier in die Kirche. Links von mir sitzt der Präsident vom Laudate-Chor, in dem er selbst seit Jahren mitsingt. Wir stossen an und sind per Du.

«Jesus hat einfach gern gegessen», sagt Pfarrer Martin Scheidegger ins Kopfmikrophon. Er schlägt die Bibel auf und zitiert Stellen, in denen Jesus in Gemeinschaft isst. Martin Scheidegger fasst sich kurz und fordert uns auf, uns kurz vorzustellen und zu sagen, auf welche Speisen wir uns besonders freuen. Der Brotkorb macht die Runde. Aufschnitt- und Käseplatten werden aufgetischt. Sogar an die Veganerinnen haben die Veranstaltenden gedacht: Hummus, Fleisch- und Käseersatz stehen bereit.

Ein Abendmahl als Pilotversuch

«Dieses Abendmahl ist ein Pilotversuch», sagt Martin Scheidegger, der sich neben mich gesetzt hat. Die Pfarrerinnen und Pfarrer des Kirchenkreis neun testen heute das neue Format: gemeinsam essen und dabei Abendmahl feiern. Martin Scheidegger steht nochmals auf und lädt uns ein, ein Stück Brot in die Hand zu nehmen und etwas zu trinken bereitzuhalten. Die Tischgespräche sind noch im Gang, Lachen ist zu hören, ein kleines Mädchen ruft, winkt und die Bestecke klappern, als Martin Scheidegger die Worte von Jesus spricht: «Und dann nahm er das Brot und sagte Dank, brach es, reichte es seinen Jüngern  …». «Müssten nun nicht alle schweigen, aufhören zu essen, in sich gehen?», geht es mir durch den Kopf. Dann wird es doch ruhig. Die Tischgespräche enden, Gabeln und Messer liegen neben den Tellern. «Tut dies zu meinem Gedächtnis», sagt der Pfarrer. Gemeinsam essen wir das Stück Brot, das wir in der Hand halten und trinken einen Schluck aus unserem Glas.

«Wie hast du das erlebt?», frage ich meinen Tischnachbarn. «Berührend», sagt er und lässt es dabei bewenden. Mir kommen die Tischgemeinschaften unserer Familienfeste in den Sinn, die unsere Nonna so liebt, und ich sehe die lange Tafel in unserem Hinterhof, an der wir im Sommer mit den Nachbarsfamilien essen. 

Dann kommt für das Serviceteam die stressige Viertelstunde und für mich geht es weiter durch die «Lange Nacht der Kirchen».

Gefaltete Kraniche und eine japanische -Legende

Am Lindenplatz nehme ich das Tram. Ziel ist die Kirche St. Gallus in Schwamendingen. Dort sind tausende Kraniche im Kirchenraum aufgehängt. Vorbei an ausgelassenen Kindern auf einer Hüpfkirche betrete ich den Kirchenraum. Pfarreikoordinatorin Frieda Mathis begrüsst mich am Eingang. Das musikalische Friedensgebet habe ich leider verpasst. Frieda Mathis erzählt mir die Geschichte der vierjährigen Sadako -Sasaki, die in Hiroshima den Abwurf der Atombombe im Jahr 1945 überlebt hatte: Sadako sei als Folge der atomaren Verstrahlung an Leukämie erkrankt. Da das Mädchen leben wollte, habe sie 1000 Kraniche gefaltet, die ihr nach einer japanischen Legende Glück und ein langes Leben hätten schenken sollen. Als Sadako den 999. Kranich gefaltet habe, sei sie gestorben.

Ausser mir sitzen zwei ältere Frauen in der Kirche. Die Kirche erinnert tatsächlich ein bisschen an einen Hangar, wie ich zuvor auf Wikipedia gelesen hatte. Aus den Lautsprechern höre ich Fetzen von einer Geschichte über einen König und Bruchstücke einer Weihnachtsgeschichte aus dem Ersten Weltkrieg. Aber das Audio ist zu leise – und meine Gedanken hängen an der Geschichte von Sadako. Ich betrachte die Kraniche, die über mir schweben und in warmes Sonnenlicht getaucht sind. Ich bin genau zum richtigen Zeitpunkt hier. Aber dennoch fühle ich mich einsam in den leeren Kirchenbänken und bedauere, dass ich die Abendmahlsgemeinschaft in Altstetten zurückgelassen habe. Drei Kinder holen meine Aufmerksamkeit zurück. An der Wand hängen Anleitungen zum Falten der Kraniche. Dem Jungen geht die Falterei zu langsam, seine Mutter beruhigt ihn, während die zwei Mädchen geduldig pröbeln. Ich gehe hin und wir tauschen uns kurz über Origami-Falttechniken aus. Dann verlasse ich St. Gallus in Richtung Oerlikon, wo ich das Theaterstück «Mensch Hiob. Gedanken zum Leid» sehen will. Die Sonne ist schon beinahe untergegangen. Dafür steht jetzt der Mond üppig am Himmel.

Ein selbstgeschriebenes Theaterstück

Vor der Kirche Herz Jesu treffe ich Manfred Kulla. Er ist Diakon in der Pfarrei und hat das Theaterstück geschrieben. Er erzählt mir, dass der Stoff biographische Bezüge habe. Seine Frau sei an Krebs gestorben. Ich bin etwas überrumpelt und spreche ihm mein Beileid aus. Um 21 Uhr beginnt die Vorstellung. Als Bühne dient der Altarraum. Der Schauspieler Gottfried Breitfuss sitzt als Hiob an einem Tischchen. Manfred Kulla nähert sich als Gott dem wütenden Hiob aus dem Chorraum. Etwa 15 Zuschauende sitzen in den Bänken. 

Die erzählte Geschichte weicht von der biblischen Vorlage ab: Seit Hiob den Tod einer Frau und den Schmerz des zurückgelassenen Mannes hautnah mitbekommen hat, ist für ihn nichts mehr, wie es war. Die Frau sei nach langem Leiden an Krebs gestorben, erzählt Hiob. Warum er, Gott, das zugelassen habe? Er wirft Gott Zynismus vor, wenn dieser mit «innerweltlicher Logik» argumentiert, dass es auf der Welt halt so sei und er auch nicht einfach so eingreifen könne. «Du bist weder gerecht noch barmherzig», schmettert Hiob Gott an den Kopf. Gott weicht aus. Hiob schimpft Gott eitel und will endlich Reue von ihm sehen. «Willst du mich zum Frevler machen, nur um Recht zu behalten?», fragt ihn Gott. Das Stück endet und die Zuschauenden bleiben ruhig sitzen. Vielleicht haben auch andere, wie ich, einen Kloss im Hals. «Sie dürfen ruhig klatschen», sagt Manfred Kulla und bricht das betretene Schweigen.

Ich verstehe Hiob tausendmal. Aber ich verstehe nicht, warum wir nun mit dieser Frage allein in die Nacht hinausgehen sollen. Ein bisschen Austausch oder Zuspruch könnte ich nun gebrauchen. Vor der Kirche wartet der grosse helle Mond auf mich. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zum Bahnhof Oerlikon.

Mit dem Mond unterwegs

Der Zug in Richtung Innenstadt ist voll. Die zweite Sommernacht dieses Jahres will gefeiert werden. Meine Verstimmung hellt sich unter dem Partyvolk etwas auf. Ich bin bereit für «Im Dunst von Felix und Regula» in der gleichnamigen Kirche zwischen Hard- und Albisriederplatz. Der Kirchenraum ist dunkel und eine Maschine stösst von Zeit zu Zeit einen Dunstschwall aus. Die Lichtkegel der Scheinwerfer lassen die farbigen Figuren der Kirchenfenster von aussen hell leuchten. Im Innern werden die farbigen Strahlen durch den Rauch sichtbar. Ich betrachte das Farbenspiel und die leuchtenden Figuren der Glasfenster. Wer sind die Figuren? Welche Geschichte wird hier erzählt? Mit der Zeit stört mich dann das mechanische Hin und Her des Scheinwerfers. Die künstliche Lichtquelle kann definitiv nicht mit der untergehenden Sonne mithalten, die ich in Schwamendingen erlebt habe.

Dann erklingt Musik. Die Orgel und eine Geige spielen. Ein Schauer läuft über meinen Rücken, die Haare auf meinen Armen stellen sich auf. Die Musik geht mir unter die Haut und ich merke, wie es um meinen Brustkorb eng wird. Tränen steigen mir in die Augen. Zum Glück ist es dunkel. Die Menschen um mich herum sind Silhouetten, wir treten nicht miteinander in Kontakt. Ich bleibe mit meinen Eindrücken und Gedanken allein. 

Wie abgemacht wartet der Mond auch hier auf mich und wir machen uns auf den Weg zu meiner letzten Station.

 

Abschied vom himmlischen Begleiter

«Church-Clubbing» in der Kirche Heilig Geist in Höngg. Etwas Bewegung wird mir guttun. Um 23.30 Uhr komme ich bei der Kirche an. Draussen stehen Festbänke. Auf dem Grill liegen noch ein paar Cervelats. In der Kirche im oberen Stock pulsiert Licht und Musik, und wieder sind es Silhouetten, denen ich auf dem Dancefloor begegne. Ich probiere ein paar Bewegungen und versuche, mich auf die Musik einzulassen. Aber diesmal bleibt der Schauer aus. Keine Hühnerhaut. Ich bin zu müde und das kleine Häuflein auf der Tanzfläche schafft es nicht, mich mitzureissen. 

Ich mache mich auf den Weg nach Hause. Und verabschiede mich vor der Haustüre von meinem himmlischen Begleiter.

Text: Eva Meienberg