Kreuzgang des Lebens

Aus dem Zürcher Grossmünster

Kreuzgang des Lebens

Eine Figur im Kreuzgang des Grossmünsters hat es Christoph Sigrist besonders angetan.

Der Kreuzgang am Grossmünster ist eine der schönsten Oasen für die Stadtseele Zürich. Verborgen hinter dem mächtigen Kirchenschiff lädt der jeden Tag geöffnete Kreuzgang Menschen dazu ein, das zu tun, was vor der Reformation 24 Chorherren und Kaplane auch getan haben. Sie wohnten in kleinen Häuschen an der Trittli- und der Schlossergasse. Sie sangen den Glauben im Chor. Sie lasen die Messen bei den 24 Altären im Kirchenraum. Sie flanierten zwischendurch im Kreuzgang und Stiftsgarten. 

Durch Ulrich Zwingli und seinen Nachfolger, Heinrich Bullinger, geschah eine erste Umnutzung: Die Chorherren verschwanden. Theologen kamen und stritten über die rechte Bedeutung der Bibel im Kreuzgang und in der Prophezei, der Theologenschule. 

Der Kreuzgang wurde in den folgenden Jahrhunderten viele Male umgenutzt. Er wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts leicht verschoben, um der Münstergasse Platz zu machen. Im Klostergebäude selbst wurde eine Mädchenschule eingerichtet. Heute gehört der Kreuzgang der Stadt. Die Universität Zürich ist mit der theologischen Fakultät Mieterin. Schon in den 80er-Jahren genoss ich als Theologiestudent diesen wunderbaren Ort. Auch heute noch flaniere ich abends spät oder morgens früh durch die Rundbögen des Kreuzgangs. Ich entdecke phantasievolle Figuren und fürchterliche Gestalten. Eine Figur hat es mir zu Beginn dieses Jahres angetan. Sie hat drei Gesichter.

Da sieht ein erstes Gesicht zurück. Der Blick auf das Vergangene weckt in mir die Frage: Woher komme ich? Ich nehme mir beim Übergang eines Jahres mehr als sonst Zeit, Bilder vergangener Erlebnisse vor dem inneren Auge auftauchen zu lassen. Ich schreite sie langsam ab. Es ist, wie wenn ich durch meinen eigenen Kreuzgang des Lebens flaniere. Der Kreuzgang beim Grossmünster erzählt von Gott, dem Schöpfer, der mich und alles Leben geschaffen hat. Nicht nur ich, sondern Menschen jeder Kultur, Religion und Konfession flanieren hier durch ihre Vergangenheit. Wie wenn nicht nur mein christlicher Glaube, sondern jede Form von Religion sich nach dem Mythos des Ursprungs sehnt, nach dem Anfang meiner Welt, unserer Welt. 

Ein zweites Gesicht schaut nach vorne: Was kommt auf mich, unsere Stadt und unsere Welt zu in diesem Jahr? Wohin gehe ich? Vieles macht mir Angst und noch mehr verunsichert mich. Neuanfang, einmal mehr. Es tut gut, immer wieder den Gang durch die Zukunft unter die Füsse zu nehmen. Dabei hält der christliche Glaube ein wunderbares Bild bereit von Petrus. Der Fischer wagt wegen einer unbekannten Gestalt am Ufer den Sprung ins kalte Wasser. Er gürtet sich, macht sich bereit. Er hat Angst. Jede Religion braucht Rituale, um den Sprung ins kalte Wasser ins Jahr 2024 nach Christus und ins Leben zu wagen. 

Das dritte Gesicht schaut mich an. Es ist das Gesicht des anderen, das mich inspiriert. Sein Blick mutet mir zu, ihm hier und jetzt zu helfen. Sein Gesicht befähigt mich, nicht wegzublicken. Sein Blick zieht mich in die Gegenwart. Ich werde ein Gegenwartsmensch, der plötzlich weiss, was recht ist, was gut ist. Jede Religion hält eine Ethik des Friedens, der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung bereit. 

So erhasche ich beim Meditieren etwas vom göttlichen Geheimnis mit seinen drei Gesichtern von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Was hindert Sie noch, im Kreuzgang am Grossmünster zu flanieren? 

Text: Christoph Sigrist