«Mit Fried und Freud»

Glaubens-Perspektiven

«Mit Fried und Freud»

Johann Sebastian Bach wird zuweilen «der fünfte Evangelist» genannt. Natürlich hat er kein zusätzliches Evangelium geschrieben, knapp 1600 Jahre nach den neutestamentlichen Schriften. 

Aber in seinen geistlichen Kompositionen entfaltet sich die biblische Botschaft auf eine Art und Weise, die einzigartig ist. Bach’sche Musik rührt etwas in uns an, das nicht in Worte gefasst werden kann. Schon als 22-Jähriger komponierte er ein Meisterwerk, das sich mit dem Tod auseinandersetzt: die Kantate «Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit», auch bekannt als «Actus tragicus» (BWV 106). 

Diese Kantate ist eine Art musikalische «Ars moriendi», also eine Kunst des Sterbens beziehungsweise der Einübung in die eigene Sterblichkeit. Eine kunstvolle Auseinandersetzung mit dem Tod ist freilich etwas völlig anderes als konkrete Not, Verzweiflung oder Todesangst. Ob man sich wirklich auf ein gutes Sterben vorbereiten kann, weiss ich nicht. Aber die Kantate bietet ein Reservoir christlichen Trostes, das auch heute noch berühren kann. Hierfür werden biblische Texte und geistliche Lieder musikalisch miteinander verflochten und neu ausgeleuchtet. 

Mein persönlicher Höhepunkt im «Actus tragicus» ist das unmittelbare Nacheinander, ja eigentlich Ineinander von alttestamentlichem Gottvertrauen und neutestamentlicher Auferstehungshoffnung: Zunächst erklingt das Wort aus Psalm 31: «In deine Hände begebe ich meinen Geist, du hast mich erlöst, du getreuer Gott.» Diesen Vers betet gemäss Lukasevangelium auch Jesus am Kreuz, und in genau jenem Evangelium verheisst Jesus einem Mitgekreuzigten: «Heute wirst du mit mir im Paradies sein,» (Lk 23,43). Beide Worte zusammen ergeben ein neues Ganzes: die vertrauensvolle, eindringlich zum Klingen gebrachte Hingabe in die Hände Gottes findet ein Gegenüber im Paradiesversprechen Jesu. 

Letzteres kommt tänzerisch daher und wird von Bach in ein konzertantes Zwiegespräch weitergeführt. Er legt nämlich – und das zu hören, ergreift mich jedes Mal aufs Neue – Luthers Lieddichtung nach dem Lobgesang des Simeon (Lk 2,29–32) über die Arie. So erklingt gleichzeitig und sich wechselseitig befruchtend: «Heute wirst du mit mir im Paradies sein» und «Mit Fried und Freud ich fahr dahin in Gottes Willen, getrost ist mir mein Herz und Sinn, sanft und stille. Wie Gott mir verheissen hat: der Tod ist mein Schlaf worden.» 

Diese Komposition wie überhaupt die ganze Kantate Bachs strahlt eine nicht zu beschreibende, besondere Ruhe aus. Tod und Sterben werden nicht beiseitegeschoben, sie sind unausweichlich. Doch die biblische Botschaft und schon auch ein wenig dieser fünfte Evangelist aus der Barockzeit stellen Trost und Zuversicht daneben – so dass ich jederzeit auf die Frage, wie ich sterben möchte, antworten würde: «Mit Fried und Freud.»

Text: Christine Stark