Zwischen Joseph Ratzinger und Benedikt XVI.

Stimmen zur Einordnung

Zwischen Joseph Ratzinger und Benedikt XVI.

Die Vielzahl von Reaktionen auf den Tod des emeritierten Papstes am 31. Dezember 2022 zeichnen das Bild einer vielschichtigen Persönlichkeit, die viel schillernder war, als es ihr zurückhaltendes, fast schüchternes Auftreten vermuten liess.

«So bleibt die Erinnerung an eine grosse theologische Persönlichkeit, die über Jahrzehnte das Gesicht der katholischen Kirche geprägt hat und ihr viele wichtige theologische wie geistliche Impulse gegeben hat. Eine abschliessende Bewertung seines Pontifikates kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorgenommen werden. Viele seiner Einsichten jedoch haben bleibende Bedeutung, da sie nicht nur von geistlicher Tiefe sind und aus der Fülle der Tradition schöpfen, sondern auch mit einer Eleganz und Schönheit vorgetragen werden, die man in der heutigen Zeit schmerzlich vermisst.»

Franz Jung, Bischof von Würzburg 

«Theologisch fiel Ratzinger zu Beginn seines Wirkens dadurch auf, dass er nicht in neoscholastischer Manier dozierte, sondern es wagte, Fragen in damals unkonventioneller Weise zu stellen. Schnell wurde aber deutlich, dass der eher schüchterne und feingeistige Ratzinger mit den Veränderungen im Zuge der 68er-Bewegung nicht zurechtkam. Ihm lag zwar an der Freiheit des Denkens (in klaren Bahnen), aber nicht an der Freiheit selbstbestimmten Lebens. Die Angst vor gesellschaftlichen Veränderungen aufgrund selbstbewusster Lebensführung zieht sich wie ein roter Faden durch das Wirken von Ratzinger. Mit der ihm zur Verfügung stehenden (nicht geringen) Macht versuchte er, den von ihm diagnostizierten Moralverfall aufzuhalten, und verfocht nicht nur den priesterlichen Zölibat, sondern auch die in ‹Humanae vitae› vor-gelegte Sexuallehre und sprach sich gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen und die Priesterinnenweihe von Frauen aus. Er lehnte konsequent jede Beteiligung der katholischen Kirche an der Schwangerschaftskonfliktberatung ab.»

Florian Bruckmann, Professor für Katholische Theologie an der Europa-Universität Flensburg 

«Benedikt hat sich immer um den ökumenischen Dialog bemüht. Er hat beim Zustandekommen der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre 1999 mit den lutherischen Kirchen eine wichtige Rolle gespielt. Was die Ökumene angeht, ist die Bilanz aber gemischt. Bei den Protestanten hat die Erklärung ‹Dominus Jesus›, die der damalige Kardinal Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation 2000 veröffentlicht hat, Verletzungen hinterlassen, die nachgewirkt haben. Dort heisst es, die protestantischen Kirchen seien nicht ‹Kirche im eigentlichen Sinne›. Die damit verbundene Vorstellung, dass die katholische Kirche die eigentliche Kirche ist und die anderen Kirchen nur ‹kirchliche Gemeinschaften›, ist kein wirklich tragfähiges Konzept von Ökumene.»

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Landesbischof der evangelischen Kirche in Bayern 

«Joseph Ratzinger entwickelte kein Verständnis für die Zukunftsdimension des Glaubens. Vielmehr versuchte er, die Reformimpulse des Konzils zu begrenzen oder sogar zurückzunehmen. Er erwies sich damit als unerbittlicher Reaktionär, der letztlich gescheitert ist. Auch als ‹Papa emeritus› meldete er sich trotz seines anderslautenden Versprechens immer wieder in höchst problematischer Weise zu Wort. Mit seinen unglaubwürdigen Stellungnahmen zum zweiten Münchner Missbrauchsgutachten hat er selbst seinen Ruf als Theologe und Kirchenführer und als ‹Mitarbeiter der Wahrheit› (sein Bischofswahlspruch) schwer beschädigt.»

Die Reformbewegung «Wir sind Kirche» 

«Im erbitterten Lagerkampf zwischen Benedettisten und Anti-Ratzingerianern ist es ganz gut zu wissen, dass laut Kirchenrecht einerseits ein Seligsprechungsprozess frühestens in fünf Jahren beginnen könnte, andererseits die Akten über einen verstorbenen Papst erst nach Ablauf von 60 Jahren für die wissenschaftliche Aufarbeitung verfügbar sind. Bis dahin stehen alle Einordnungen – so seriös sie auch sein mögen – unter dem Vorbehalt begrenzter Quellenkenntnis.

In 60 Jahren können sich die Gemüter in den polarisierten Blasen des Katholizismus beruhigen, und in der abgeklärten Ruhe des Abstands zu einem Pontifikat werden Erfolge und Fehler der päpstlichen Amtsführung gleichermassen besser erkennbar werden. Das gilt heute besonders für das Thema Missbrauch und dessen Aufarbeitung. Mit dem Wissen von heute würde auch Papst Johannes Paul II. wohl nicht mehr heiliggesprochen werden, der nachweislich den Schrei der Opfer überhört und die Täter geschützt hat.

Bei allem gilt, rechtlich gesprochen, ‹audiatur altera pars›: Man höre vor einem Urteil immer auch die andere Seite. Ins Historiografische übersetzt: Erst das Studium aller verfügbaren Akten, gerade auch von Mächtigen in der Kirche, ermöglicht ein valides Urteil.»

Thomas Schüller, Professor für Kirchenrecht 
an der Universität Münster 

«Papst Benedikt XVI. hatte eine beeindruckende Art, auf Menschen einzugehen und ihnen zuzu-hören. Er war eine Persönlichkeit, die einen scharfen analytischen Verstand mit tiefer Frömmigkeit und Herzenswärme verband. Seine Kraft schöpfte er aus der Betrachtung der Heiligen Schrift und der Feier der heiligen Geheimnisse. Mit seinen Predigten und Meditationen erschloss er auf unvergessliche Weise die Dynamik des Wortes Gottes für unsere Zeit.»

Georg Bätzing, Bischof von Limburg und Vor-sitzender der deutschen Bischofskonferenz
Text: Zusammenstellung: Thomas Binotto