Krippe in Not

Reportage

Krippe in Not

Die lebensgrossen Krippenfiguren gehören im Advent zu Adliswil wie der ­Eiffelturm zu Paris. Doch ihr Verbleiben auf dem zentralen Stadtplatz ist immer wieder unsicher.

Schneegestöber, verschneite Tannenbäume, warmes Licht in einer kalten Dezembernacht: Die Szenerie könnte weihnachtlicher nicht sein an diesem Vorabend im Advent 2022. Da unser Heft immer schon vor dem 1. Dezember Redaktionsschluss hat, sind wir ein Jahr früher auf dem Adliswiler Bruggeplatz, um zu fotografieren. Es ist bitterkalt. Mit Mützen tief ins Gesicht gezogen und einer wärmenden Tasse Glühwein oder Orangen-Punsch in den Händen hängen Kinder und Erwachsene an den Lippen der Märchenerzählerin. Mit lebhaften Gesten und in unterschiedlichen Stimmhöhen lässt sie die Geschichte vom «Jungen und dem Rentier mit dem goldenen Geweih» lebendig werden. Hinter ihr leuchten die lebensgrossen Krippenfiguren aus gegossenem Plastik in warmem, farbigem Licht. Sie stehen in einem grossen Stall, über ihnen leuchtet der Weihnachtsstern. Ochs und Esel bewachen das Jesuskind, Hirten und Könige gucken hinter Tannen hervor. Immer wieder klettert ein Kind die paar Treppenstufen hoch, um ganz nahe an der Krippe die Figuren zu bestaunen.

Auch 2023 begleitet die Krippe wieder in Adliswil durch den Advent. Doch ein neues Winterzauber-Eisfeld und andere Angebote, welche die Menschen vom Bruggeplatz weglocken, konkurrieren möglicherweise mit Maria, Josef und dem Jesuskind. Das befürchtet Walter Diem, Präsident des Vereins Adventskrippe Adliswil. Auch sind die vielen kleinen finanziellen Gönnerbeiträge dieses Jahr erst mager geflossen. Im Januar wird deshalb – so Diem – der Adventskrippe-Verein über die Zukunft der Adliswiler Tradition wieder neu befinden müssen.


Hirten und Engel erzählen

Seit mehr als 20 Jahren gehört die Krippe zum adventlichen Adliswiler Stadtbild. «Wie der Eiffelturm zu Paris», sagte der hier wohnhafte Schauspieler Kamil Krejčí mal in der Zürichsee-Zeitung. Zusammen mit Brigitte Schmidlin und Beat Gärtner gründete er 2001 den «Adliswiler Weihnachtskalender». Mit grossem Erfolg: über die Dezembertage verteilt lauschten 4000 Kinder und Erwachsene den eigens für diesen Anlass kreierten Geschichten. Das Bild der drei Film- und Theaterschauspielenden, als Hirten und Engel mit grossen Flügeln verkleidet, prägte sich Generationen von Kindern ein.

Doch nach 10 Jahren drohte zum ersten Mal das Aus. Die Hauptsponsoren des Anlasses, die Stadt Adliswil und der Kanton Zürich, zogen sich zurück. Aber so schnell gaben die Adliswilerinnen und Adliswiler ihre liebgewonnene Tradition nicht her. Sie schrieben Briefe an den Stadtrat, sammelten Unterschriften und gründeten auf Facebook eine Weihnachtskalender-Fangruppe. Noch bevor die letzte Geschichte in jenem Advent 2011 erzählt war, hatten der damalige Stadtpräsident Harald Huber und Gemeinderat Clemens Ruckstuhl ein Rettungspaket geschnürt und neue Grosssponsoren gefunden.


Zauberhafte Atmosphäre

Zurück bei der Krippe im Advent 2022: Die Geschichte vom Rentier mit dem goldenen Geweih ist fertig. Im farbig bemalten Begleithäuschen füllen zwei freiwillige Helferinnen warmen Punsch oder Glühwein in Becher, geben spanische Nüssli, Mandarinli oder Weihnachtsgebäck zum Knabbern heraus. Eine von ihnen ist Melanie Sauerbier. Der Schneefall wird immer dichter. «Ich finde die Atmosphäre hier zauberhaft. Es ist so wichtig, dass gerade Kinder auf diese Weise ein prägendes Adventserlebnis mitbekommen. Das ist viel wertvoller, als unpersönliche Geschichten auf dem Handy oder dem Fernseher zu konsumieren ...» So erklärt sie ihr Engagement. Sie wurde Teil eines neuen Adventskrippe-Teams, nachdem zum zweiten Mal das Ende der täglichen Adventsgeschichten verkündet worden war.


Krachendes Ende

Das war im Frühsommer 2019. Nach bald zwanzig Jahren täglichen Einsatzes im Advent waren Kamil Krejčí, Brigitte Schmidlin und Beat Gärtner auf der Suche nach einer Nachfolge für ihr Herzensprojekt. Aber der grosse Aufwand schien alle abzuschrecken:

Sponsoren suchen, Geschichten schreiben, Werbeauftritte koordinieren, Musikerinnen und Musiker anfragen … Hinzu kamen der finanzielle Aufwand zur Lagerung der Krippe unter dem Jahr und der tägliche Zeitaufwand im Dezember durch die Präsenz vor Ort. So blieb einem traurigen Kamil Krejčí nichts anderes übrig, als in der Zürichsee-Zeitung zu verkünden: «Jedes Ding hat seine Zeit.» Eine kleine Hoffnung aber blieb: «Wir sind bestrebt, gemeinsam mit der Stadt sowie dem Handels- und Gewerbeverein eine Möglichkeit zu finden, zumindest der Krippe auf dem Bruggeplatz ein Fortbestehen zu ermöglichen», sagte Krejčí damals gegenüber der Zeitung.

Diese Bemühungen erlebten ein krachendes Ende im November 2019. Die Weihnachtskrippe entzweite den Handels- und Gewerbeverein Adliswil. Während der damalige Präsident die Krippe unbedingt retten wollte, argumentierte dessen Vorstand, dass die Weiterführung der Weihnachtskrippen-Tradition mit einem grossen finanziellen Risiko verbunden sei. Der Riss war tief und der Präsident trat per sofort aus dem Vorstand zurück.


Nacht- und Nebelaktion

Aber auch diesmal gab es wieder eine Rettung in letzter Not: «In einer Nacht- und Nebelaktion habe ich einen Verein gegründet», erzählt Walter Diem, damals OK-Präsident des Adliswiler Weihnachtsmärt. Zusammen mit vier Mitstreitern fand er einen neuen, potenten Grosssponsor und engagierte zum Geschichten-Erzählen die Schweizerische Märchengesellschaft. Auch die Stadt Adliswil ist wieder als Sponsor dabei. Nahtlos ging somit die Weihnachtstradition auch in jenem Advent weiter. Einzig während der Corona-Pandemie konnten zeitweise keine Geschichten erzählt werden.

Es ist 18 Uhr, das letzte Märchen verklungen, leise Weihnachtsmusik ertönt. Walter Diem nimmt ein Mikrofon und dankt den Anwesenden fürs Durchhalten an diesem kalten Winterabend: «Die strahlenden Kinderaugen sind für uns der schönste Lohn!» Ob im Advent 2024 die Adventskrippe immer noch auf dem Adliswiler Bruggeplatz stehen wird?

Text: Beatrix Ledergerber