Teilen statt trennen

Editorial

Teilen statt trennen

Über Sinn und Unsinn von Olympischen Spielen – mit oder ohne Zuschauer – kann man geteilter Meinung sein. Mir steht der Sinn aber gerade gar nicht nach jenem Verständnis von Teilen, das Streit und Trennung bedeutet.

Deshalb gestehe ich: Ja, ich habe Olympia genossen. Mein grösster olympischer Jubelmoment waren allerdings nicht die vielen Schweizer Medaillen. Richtig gepackt und ergriffen hat mich der Hochsprung der Männer. Bei übersprungenen 2,37 Metern war für Essa Mutaz Barshim und Gianmarco Tamberi Schluss. Der Katarer und der Italiener hatten für diese Höhe genau gleich viele Versuche gebraucht. Damit entstand an der Spitze des Klassements eine Pattsituation. Das Reglement sieht in diesem Moment ein Ausspringen vor, das so lange dauert, bis einer der beiden Athleten den anderen übertrifft.

Barshim und Tamberi jedoch beschlossen spontan: Das machen wir nicht. Wir teilen uns das Gold brüderlich. Dieser Wettkampf soll für einmal nicht mit einem einsamen Sieger enden. Zwei Sportler, ehrgeizige Wettkampftypen, haben sich entschieden, die Entweder-oder-Wahl ganz einfach auszuschlagen. Sie haben im Teilen das Verbindende entdeckt und gelebt. Mit einer Freude übrigens, die alle anderen olympischen Siegestänze bieder erscheinen liess.

Wären Kain und Abel so klug gewesen, es wäre nicht zum Brudermord gekommen. Und wären wir Christinnen und Christen so weise, so würden wir unseren Glauben nach dem Vorbild von Barshim und Tamberi teilen. So unterschiedlich die Wege auch sein mögen, der geteilte Glaube sollte nicht trennen, sondern verbinden. Damit würde für möglichst viele Platz geschaffen und nicht nur für die sturköpfigsten Rechthaber. Der Jubel auf dem Olymp, da bin ich ganz sicher, dieser Jubel wäre tamberisch-barshimisch. Mehr noch: Er wäre göttlich.

Text: Thomas Binotto