Totalversagen eines Systems

Katholische Kirche Deutschland

Totalversagen eines Systems

Das Urteil ist verheerend: Allen Verantwortlichen der vergangenen 75 Jahre – inklusive Ex-Papst Benedikt XVI. – attestiert das Gutachten zu sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising Fehler.

Fast 1900 Seiten umfasst die «Bilanz des Schreckens», welche die Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) am 20. Januar  im Gutachten zu sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising präsentierte. Von «Totalversagen» eines Systems sprechen die Anwälte, zumindest bis 2010. Geschont haben sie keinen kirchlichen Würdenträger, auch nicht Kardinal Reinhard Marx, der bei der Pressekonferenz abwesend war, und den emeritierten Papst. 

Es geht unter anderem um eine Aussage von Benedikt XVI. zu Beteiligung und Mitwisserschaft im Fall des Wiederholungstäters Peter H., der 1980 von Essen nach München kam, um sich dort einer Therapie zu unterziehen. Benedikt XVI. hatte behauptet, er habe als Münchner Erzbischof an der entscheidenden Ordinariatssitzung gar nicht teilgenommen, was aber vom entsprechenden Sitzungsprotokoll widerlegt wird. 


Benedikt gibt Falschaussage zu 

Nach dessen Bekanntwerden hat Benedikt XVI. zugegeben, doch an der Ordinariatssitzung am 15. Januar 1980 teilgenommen zu haben. Der Fehler sei aber «nicht aus böser Absicht heraus geschehen», sondern «Folge eines Versehens bei der redaktionellen Bearbeitung seiner Stellungnahme». Eine ausführliche Stellungnahme will Ratzinger, der von 1977 bis 1982 Erzbischof von München-Freising war, später abgeben. Die bisherige Lektüre der Ausführungen erfülle ihn «mit Scham und Schmerz über das Leid», das den Opfern zugefügt worden ist. Ein Fehlverhalten erkennen die Anwälte bei Ratzinger auch noch in drei weiteren Fällen, was dieser aber bestreitet. Dabei geht es um die Versetzung straffällig gewordener Geistlicher, die andernorts weiter Seelsorge betreiben durften. 


Verantwortung übernommen

Klar Verantwortung übernommen hat bis Redaktionsschluss der Nachfolger von Ratzinger als Münchner Erzbischof, Friedrich Wetter. Er entschuldigte sich öffentlich: «Für meinen Anteil an dem unzureichenden Umgang im Fall H., aber auch mit anderen Anzeigen in meiner Amtszeit muss ich deshalb auch persönlich Verantwortung übernehmen.» 

Die Staatsanwaltschaft München I ist bereits mit der Prüfung von 42 Fällen befasst, in denen die Anwälte ein Fehlverhalten von Verantwortungsträgern festgestellt haben. Es sei denkbar, Beihilfe und andere Straftatbestände auf das Handeln oder Unterlassen Verantwortlicher anzuwenden. Kardinal Reinhard Marx, dem vorgeworfen wird, dass er den Umgang mit Missbrauchsfällen delegiert habe, statt ihn zur Chefsache zu machen, will sich später dazu äussern. 


Kein einziger Gerechter

Die WSW-Anwälte fragen die Bischöfe, ob es bis 2010 wirklich keine Möglichkeit gegeben habe, innerhalb des Systems zu opponieren. In den drei von seiner Kanzlei untersuchten Bistümern habe Wastl bisher nur einen solchen Menschen angetroffen, der aber 1993 verstorben sei. Auf die Frage, ob es bei der Untersuchung über den Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum nicht wenigstens einen «Gerechten» gegeben habe, antwortet Marion Westpfahl knapp: «Ein solcher ist mir nicht in Erinnerung.»