Brot und Liebe

Leben in Beziehung

Brot und Liebe

Als Kind kaufte ich auf dem Schulweg bei ihr duftende Meitschibei oder selbstgemachte Apfelglacée. Sie und ihr Mann, er im weissen Bäckerskleid und mit mehligen Fingern, pflegten mit uns Kindern immer einen sehr herzlichen Umgang. Wir liebten die beiden.

Die Jahre vergingen, und Werni stand noch immer um drei Uhr auf, damit unsere Quartierbäckerei schon von weitem für uns duftete. Und sie bediente mit einem Lächeln und einem guten Wort auf den Lippen. Ich kannte sie auch aus der Kirchenbank.

Mit der Zeit fuhren die Leute vermehrt zu den Grossverteilern, die Kundschaft kam nur noch spärlich. Bald begann sich ihr Rücken zu krümmen. Und obwohl das Alter sie zeichnete, arbeitete das Ehepaar weiter, neu mitten in der Stadt: Bäcker werden nicht reich. Und wieder erfreuten sich viele Menschen an ihrem Zopf. Nach und nach sammelten sich Einsame und Randständige um den kleinen Tisch, an dem man einen günstigen Kaffee zum Gipfeli trinken konnte. Sie war wie eine Mutter, die Brot ausgab und nährende Worte verschenkte. Vor 10 Jahren starb der fleissige Bäcker. Und mit ihm unsere herzenswarme Bäckerei.

Sie steht mit dem Rollator und vornüber gebeugtem Kreuz beim Blumenstand am Ausgang der Migros und wartet. Sie muss jetzt vielleicht 90 Jahre alt sein. Sie sagt zu mir: «Ich möchte Ihnen etwas sagen. Ich bin ja nicht frömmlerisch oder so, aber jede Nacht, bevor ich einschlafe, denke ich an einige mir ganz liebe Menschen. Einer davon ist ihr Vater. Ich kannte ihn schon vor meiner Hochzeit. Er fehlt mir.»

Wir verstopfen den schmalen Ausgang. Verkrümmt, wie sie dasteht, macht sie einen zerbrechlichen Eindruck, und gleichzeitig öffnet sich einem, ob ihrem strahlenden Lächeln, das Herz. Ich bin gerührt. Ein alter Mensch gedenkt meines alten Vaters. In wenigen Jahrzehnten wird ihn – wird uns – niemand mehr kennen.

Plötzlich fasst sie sich ins Kreuz. «Haben Sie Schmerzen?» – «Ja.» Das Kinn zittert. «Mit 20 war ich in Lourdes und habe da ein Goldkettchen mit Kreuz gekauft.» Rasch fängt sie sich: «Morgen kommt der Zirkuspfarrer an die Chilby. Er hat ja ein Kind bekommen. Ich finde es toll, wie er damit umgeht – und dass Bischof Felix ihn weiter unterstützt! Auf diesen Gottesdienst freue ich mich sehr, und dann kommt mein Sohn zum Mittagessen. Dann geht es mir gut.» Sie lächelt und bietet mir das Du an. Im Gegenzug erlaube ich mir, sie beim Abschied zu umarmen. «Jetzt gehe ich einen Zopf backen – für meine Nachbarin, das habe ich versprochen.»

Diese «gebrechliche alte» Frau mit den wachen Augen. Ein Vorbild mit nur zwei Zutaten: Brot und Liebe. Ich erinnere mich an meine Grossmutter, die vor jedem Anschneiden ein Kreuz in den Brotlaib ritzte – das mache ich jetzt auch.

Text: Tatjana Disteli